Sonntag, 17. November 2019

Es ist an der Zeit für Mitgliederjurys in Genossenschaften, vielleicht auch in anderen Unternehmen

Als jemand, der sich seit Jahren dafür engagiert, das genossenschaftliche Potential von traditionellen Wohnungsgenossenschaften zu wecken, habe ich mich sehr gefreut mitzubekommen, welche guten Erfahrungen sich bei Bürgerinnenversammlungen aktuell zeigen. Ich hatte das Glück, dass ein Bekannter von mir vor einigen Monaten als einer von 160 Bundesbürgern per Losverfahren zur Mitarbeit in einem Bürgerrat von Mehr Demokratie eV ausgewählt wurde und er mir sehr angetan von seinen Erfahrungen erzählte. Es ging um die Frage, ob und wenn ja welche direktdemokratischen Elemente in der Bundespolitik Deutschlands künftig eine stärkere Rolle spielen sollen. Vor kurzem berichtete die Tagesschau: 


Seit dem sind die Ergebnisse und die Beschreibung des Verfahrens veröffentlicht:


Außerdem gibt es von Extinction Rebellion einen ausführlichen Leitfaden, der über viele positive Erfahrungen mit ähnlichen Verfahren in der ganzen Welt berichtet- download im rechten Quadranten https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/unsere-forderungen/bv/


Der Fachbegriff für diesen Bestandteil der Demokratie ist deliberative Demokratie

Da viele traditionelle Wohnungsgenossenschaften ihr Potential deshalb nicht entfalten, weil die meisten Mitglieder passiv bleiben in ihrer Rolle als Mitunternehmer und Miteigentümer bzw. keine Möglichkeit sehen, wie sie sich gut einbringen können, bin ich mir sicher, dass dieses Instrument auch in Wohnungsgenossenschaften und sogar in der genossenschaftlichen Verbandsarbeit sehr erfolgreich angewendet werden könnte. Viele Wohnungsgenossenschaften orientieren sich stark an Empfehlungen ihres Verbandes, der durch seine Prüfungstätigkeit und durch den Aufbau eines festen Mitarbeiterstamms Eigeninteressen hat, die per se keinen Zusammenhang mit der Genossenschaftsidee haben. Auch wenn dies im Prinzip nicht verwerflich ist, sehe ich derzeit ein sehr deutliches Machtungleichgewicht zulasten der Genossenschaftsmitglieder, was daraus zum Ausdruck kommt, dass sie wirtschaftlich weniger stark gefördert werden als möglich: Insbesondere zeigt sich dies an der Mietenpolitik vieler Genossenschaften, wenn diese sich mehr am Mietenspiegel orientiert, statt an den Selbstkosten, zu denen Wohnungen eigentlich den Mitgliedern überlassen werden könnten wie dies in der Schweiz noch gang und gäbe ist. Dies wird daran deutlich, dass der Schweizer Verband der Wohnungsgenossenschaften zum Prinzip der Kostenmiete noch öffentlich steht

https://www.wbg-schweiz.ch/information/genossenschaftlich_wohnen/was_ist_eine_genossenschaft

Viele große deutsche Wohnungsgenossenschaften zeigen dagegen mehr oder weniger deutlich, dass sie sich am Mietenspiegel orientieren und verlangen bei Neuvermietungen von Wohnungen aus dem Altbestand in der Regel höhere Nutzungsentgelte. Dies führt nicht nur dazu, dass Nutzungsentgelte höher sind als nötig und Mitgliedern mehr Kaufkraft entzogen wird als nötig, sondern auch dazu , dass die genossenschaftliche Gleichbehandlung zu kurz kommt - gleicher Wohnraum zum gleichen Preis - und dazu, dass es für ältere Menschen unattraktiv wird aus größeren Wohnungen in kleinere Wohnungen umzuziehen und Wohnungen frei zu machen, zum Beispiel für Mitglieder mit Kindern. Auch im Hinblick auf den Klimanotstand und den Bedarf, die Emission von CO2 stark zu reduzieren sollte das Potential, Wohnungen auf freiwilliger Basis besser zu nutzen, unbedingt ausgeschöpft werden. Es ist die mit Abstand ressourcenschonendste Möglichkeit, Wohnraum zu schaffen, noch vor einer ökologischen Gebäudeaufstockung in Holzbauweise, vor einer Grundstücksnachverdichtung im Bestand und erst recht vor neuen Wohnquartieren auf der grünen Wiese. Die Mustersatzung für Genossenschaften, wie sie vom Verband GDW vorgegeben wird, enthält gar keine Hinweise mehr auf das Prinzip der Kostenmiete. So entwickeln sich viele Genossenschaften zu gewinnorientierten Wohnungsunternehmen, die nur noch eine genossenschaftliche Fassade habe. Das genossenschaftliche Prinzip der Selbstorganisation spielt oft keine Rolle mehr. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass in genossenschaftseigenen Mitgliederzeitschriften von Mitgliedern keine Leserbriefe oder Artikel zu finden sind. Die Zeitschriften sind in der Regel ein normales Instrument der Kundenbindung, der Informationsfluss wird zentral gesteuert. Marketing ersetzt selbstorganisierte Beteiligung. Ein anderes Beispiel ist, dass die Hürden als Mitgliedervertreter einen Vorschlag auf einer Jahresversammlung in Form eines Quorums so hoch gesetzt sind, dass mir kein Fall bekannt ist, dass es in größeren Wohnungsgenossenschaften überhaupt dazu gekommen ist, dass ein Vertreter oder ein Mitglied einen inhaltlichen Vorschlag zur Geschäftspolitik machen konnte, der von der Vertreterversammlung beraten wurde, zu dem ein Meinungsbild erhoben wurde  oder der entschieden wurde.

Dem allen steht das Instrument eines Mitgliederrates oder einer Mitgliederjury entgegen. Es eröffnet neue Chance der Beteiligung. Die meisten Mitglieder und Mitgliedervertreter haben wenig Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, wichtige unternehmerische Fragen mitzuentscheiden. Es fehlt oft an Zeit aber auch an Vertrauen. Gerade hier wurde bei dem Bürgerrat von mehr Demokratie eV deutlich, dass die Teilnehmenden erheblich an Selbstvertrauen in sich und ihre Partizipanden gewonnen haben. Da es eine Aufwandsentschädigung für die Teilnehmenden gibt, lohnt es sich auch für sie ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen. So können sie gemeinsam zu Ergebnissen kommen, die wirklich fundiert sind, statt nur die Lösung einer Führungskraft anzuhören und vor die Entscheidung gestellt zu sein dieser zuzustimmen oder sie abzulehnen und damit den üblichen Prozess zu stören.

Wie schon auf Seite 5 des Ergebnispapiers vom Bürgerrat deutlich wird, geht es nicht darum die Expertise von Experten oder Verbänden per se zu missachten, aber sie werden nur gehört und nicht exklusiv sondern neben anderen, dort zum Beispiel der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft. In Wohnungsgenossenschaften wird bei Klärung von Fragen oft nur der eigene Verband, der GDW bzw. seine Unterverbände angefragt. Dies ist nicht zuletzt deshalb problematisch, da im GDW auch sehr große private gewinnorientierte Wohnungsunternehmen wie die im Aktienindex DAX vertretene Vonovia SE Mitglied sind und zudem kirchliche und kommunale Wohnungsunternehmen. Der Zweck von Genossenschaften, die Wirtschaft der Mitglieder zu fördern, kann damit schon grundsätzlich in diesem Verband keine oberste Priorität haben. Dies wird auch deutlich bei seiner letzten Kampagne im Rahmen des Berliner Mietendeckels, bei denen Mitglieder über eine Facebook Kampagne angesprochen werden soll, die ich für manipulativ halte, statt zum Beispiel ein Panel zu diesem Thema mit Mitgliedern von Berliner Wohnungsgenossenschaften mit zu organisieren, siehe https://www.heise.de/tp/features/Immobilienlobby-Mit-Geo-Targeting-gegen-den-Mietendeckel-4557668.html

Zwei Wortmeldungen von Teilnehmern eines Bürgerpanels in Belgien (XR Leitfaden Seite 25) sind aufschlussreich:

"Wenn wir der Logik von Big Brother (gemeint ist wohl die Idee alles zentral steuern zu können und zu sollen) folgen würden, würden wir allmählich die Leute eliminieren, die uns auf die Nerven gingen. Aber hier tun wir es nicht. Wir müssen zusammenhalten und zeigen, dass man Dinge erreichen kann, wenn man zusammenarbeitet." Pierre, Mitglied des Bürgerpanels Belgien

In meiner Genossenschaft habe ich vor zweieinhalb Jahren mit anderen eine Basisgruppe Genossenschaftsidee gegründet, in der wir uns basisdemokratisch, selbstorganisiert und konstruktiv in die innergenossenchaftlichen Prozesse einschalten und versuchen mittels Kooperation mit den bestehenden Organen, wie Vertreterversammlung, Aufsichtsrat und Vorstand die Unternehmenspolitik stärker am Genossenschaftsgedanken auszurichten. Auch wir haben immer wieder Situationen, wo es uns schwer fällt niemand auszugrenzen. Dennoch gelingt uns immer wieder die Gratwanderung , jedenfalls bisher, dass die Gruppe weder zu einer verschworenen Gemeinschaft wird, die andere als aussenstehend betrachtet, noch zu einem losen Haufen, der sich mehr untereinander streitet als etwas zu bewirken, sondern erfüllen immer wieder den Anpruch einen Konsens zu erzielen und als Team in der größeren genossenschaftlichen Gemeinschaft zu wirken.

"Ich war in der nacht im Parlament, als Abgeordnete aller sechs Parteien sich über ideologische Differenzen hinweg setzten, um dem Gesetz zuzustimmen. Es war ein mutiger Schritt, ein Zeichen für andere Politiker*innen- die ihre Wähler*innen eher als Bedohung denn als Resource betrachten- dass man den Bürger*innen vertrauen sollte, anstatt sie zu fürchten oder zu manipulieren." David Van Reybrouck, Mitorganisator des belgischen Bürgerpanels

Auch ich habe wahrgenommen, dass viele Führungskräfte in Genossenschaften, vom Verband ganz abgesehen, wenig bis gar kein Vertrauen in die unternehmerischen Fähigkeiten normaler Mitglieder von Genossenschaften haben. Bei wichtigen unternehmerischen Fragen werden nicht mehrere Optionen jeweils mit für und wieder dargestellt, sondern fertige Lösungen präsentiert. Als ich einmal in der Fortbildung bei einem Unterverband des GDW-Verbandes den Ausbilder fragte, ob denn aus seiner Sicht etwas dagegen sprechen würde, wenn ein Vorstand auf einer Jahresversammlung die erheblichen stillen Reserven, die nicht bilanziert sind, beziffert, bekam ich zur Antwort, das könnte Begehrlichkeiten wecken. Wie sollen solche Vertreter unternehmerisch gut entscheiden können, wenn ihnen wichtige Information vorenthalten werden, aus Angst sie könnten  falsch entscheiden?  Normale Mitglieder, die sich überdurchschnitllich stark in Genossenschaften engagieren, werden oft als störend empfunden. Mitunter wird beklagt, dass sie nicht mehr Vertrauen in die Leitungskräfte hätten. Hier zeigt sich ein Wunsch nach Harmonie und Ordnung, der zwar verständlich ist, aber nach meiner Vermutung in die falsche Richtung geht. In einer Genossenschaft sollte man zunächst einmal Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit der Mitgliederbasis richten. Traditionelle Wohnungsgenossenschaften entstanden oft zu Zeiten, als eine autoritäre Führungskultur gang und gäbe war. Selbst der Vorläufer der SPD, die sich oft und gut um die Demokratie in der Bundesrepublik verdient gemacht hat und noch am ehesten versuchte, sich der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz zu widersetzen, wurde in ihren Anfängen als deutscher Arbeiterverein von dessem Vorsitzenden geprägt, Ferdinand Lassalle, der einen sehr autöritären Führungsstill und teilweise eine menschenverachtende Ausdrucksweise an den Tag legte. Dies wird deutlich an seiner Auseinandersetzung mit Hermann Schulze-Delitsch, einem der Gründerväter der Genossenschaftsbewegung in Deutschland, der gegen Lassalle und Bismarck(!) durchsetzte, dass Genossenschaften ihre Unternehmenspolitik selbständig gestalten können (Gewerbefreiheit) siehe

Die SPD beginnt erst seit wenigen Jahren parteiintern mehr partizipatorische Methoden der Entscheidungsfindung einzusetzen, im Gegensatz zu den Grünen, die das schon viel länger praktizieren. Da viele Wohnungsgenossenschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von und für Menschen mit geringerem Einkommen gegründet wurden, sind viele Mitglieder und Vertreter SPD-nah und noch einen autoritären Führungstil gewohnt, der die eigene Rolle darauf beschränkt, zu entscheiden, ob man eine Person x als Führungsperson für vertrauenswürdig hält oder nicht. Es ist kein Zufall, dass in der Schweiz Wohnungsgenossenschaften in ihrer Praxis noch im Durchschnitt deutlich näher an der Genossenschaftsidee handeln, da zum einen basisdemokratische Elemente wie Volksentscheide selbstverständlicher Teil der politischen Kultur sind aber auch liberale Politik, verstanden als die Idee dass die Leute selbst in der Lage sind sich zu organisieren und etwas zu bewegen, in der Politik einen größeren Stellenwert hat als in Deutschland: Die FDP gilt in der Schweiz als die staatstragende Partei, sie stellte mit Abstand die meisten Bundesräte, also die Mitglieder des oberstes Schweizer Regierungsorgans, eine Art kollegiale Kanzlerschaft:


Auch dass die Schweiz im Namen als Eidgenossenscahft die Idee der Genossenschaft trägt ist kein Zufall. Frühe Genossenschaften gab es dort bereits zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert um die Bewirtschaftung von Almen zu ermöglichen http://www.korporation-kerns.ch/de/alpgenossenschaft/geschichteag/

Der Weg muss also dahin gehen, Vertrauen in die eigenen Kräfte als Unternehmergemeinschaft und Eigentümergemeinschaft zu entdecken und zu entfalten. Dafür wäre ein Mitgliederrat eine ideale Möglichkeit, unter Beachtung wichtiger Strukturelemente wie 
- einer Zusammensetzung die tatsächlich alle Altersgruppen und Bildungstände der Mitglieder beinhalten würde und auch 
- einer neutralen Moderation und Protokollierung, 
- der Anhörung von unterschiedlichen Experten, 
- einer Ergebnissoffenheit,
- einem Willen zur Konsensfindung und 
- einem verpflichtenden Charakter, dass die Ergebnisse von den Leitungsgremien der jeweiligen Organisation nach bestem Wissen und Gewissen umgesetzt werden.
- einer Aufwandsentschädigung, die auch die Wertschätzung gegenüber der übernommen Aufgabe ausdrückt