Freitag, 22. Juli 2022

Umgang mit Irrationalität in der Betriebswirtschaftslehre (BWL)

aktualisert 28.7.2022

Die BWL versucht sinnvolle, normative Antworten für die Praxis zu geben im Rahmen des produktivitätsorientierten Ansatzes nach Erich Gutenberg. Auf dieser Basis kann sie sich für erwerbswirtschaftliche Unternehmen an der langfristigen Gewinnmaximierung für die Gesellschafter orientieren und vermutlich an der Nutzenmaxmierung der Kunden für bedarfswirtschaftliche Unternehmen. Die englischsprachige mikroökonomische Theorie differenziert hier bereits früh und versuchte einen Abgleich mit einer Realität, die der Theorie nicht entsprach. So postulierte Higgins, dass Gewinnmaximierung in einen Umfeld perfekten Wettbewerbs überlebensnotwendig für ein Unternehmen sei (siehe unten Hinweis 3.), dass aber in einem imperfekten Wettbewerbsumfeld dieser Druck sehr viel geringer sei und dort andere Ziele mehr Raum einnehmen könnten wie als Unternehmer ein ruhiges Leben zu führen, also weniger zu produzieren als die Menge, die zu einem maximalen Gewinn führen würde oder mehr zu produzieren, um an gesellschaftlichem Ansehen und Bedeutung zu gewinnen oder einfach nichts zu ändern, weil man Experimenten generell widerstrebt oder einen besimmten Preis für fair hält und ihn deshalb beibehalten will (Benjamin Higgins "Elements of Indeterminacy in the Theory of Non-perfect Competition" Am. Econ. Review, Sept. 1939, XXIX. 468-79). Heinen zitiert Parsons, "dass Erfolgs- Prestige- und Machtstreben fundamentale Ziele der Geschäftswelt darstellen..." (Edmund Heinen,"Die Zielfunktion der Unternehmung, 1962, S. 24 in "Zur Theorie der Unternehmung (Hrsg. Helmut Koch) zitiert T. Parsons, "The Motivation of Economic Activites", Canadian Journal of Economics and Political Sciences, Vol VI, 1940, S.187-202, hier S. 199ff.). Heinen greift das auf, wenn er unter der Überschrift nicht-montetäre Zielvorstellungen schreibt "Solche Vorstellungen äußern sich z.B. im Streben anch Prestige und Macht, nach Unabhängigkeit, nach Sicherung des Betriebsinteresses, nach Ansehen in der Öffentlichkeit, nach gutem sozialem Klima und anderem mehr" (S.24). Er schreibt weiter "Das Streben nach sozialem Ansehen, nach Prestige und Macht entspringt den gesellschaftlichen Bedürfnissen des Unternehmers. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe führt zu dem Verlangen, in dieser Gruppe eine geachtete oder gar hervorragende Stellung einzunehmenm, der die anderen Gruppenmitglieder Anerkennung und Beifall zollen. Die Wertschätzung anderer ist im allgemeinen eng mit der Stellung einer Unternehmung innerhalb ihrer Branche, mit dem absoluten Wert ihres Vermögens oder Kapitals und ihrem Wachstum verknüpft." Dies kann beispielsweise in der Praxis von Wohnungsgenossenschaften dazu führen, dass sie sich von der Förderung ihrer Mitglieder abkoppelt und eine Art Eigenleben führt und Vorstände von Wohnungsgenossenschaften in größerer Anzahl auf Wachstum und Rendite aus sind, wo es gar nicht angezeigt ist. Heinen erwähnt explizit "Zu zahlreich sind die Fälle des Bauens über die Verhältnisse hinaus, des reinen Prestigeaufwandes,..."(S.25). Heinen schreibt dies 1962. Es gibt sicher auch Vorstände und Unternehmen, die eher bescheiden auftreten und nicht den großen Auftritt lieben und es lassen sich sicher Firmenzentralen finden, die baulich die jeweilige Motivation ausdrücken.

Wo ist hier Handeln von Entscheidern noch rational, wo fängt es an irrational zu werden? Und welche Rolle soll die BWL einnehmen? Soll sie theoretisch-normativ bleiben oder empirisch werden und konstatieren, wer wo über all nicht maximierend handelt? Soll sie zum Beispiel mit spieltheoretischen Analysen sowohl Entscheidungsspielräume der handelnden Akteure abstecken und auf Optimierungsmöglichkeiten hin untersuchen als dritten Weg zwischen theoretischen Normen, um die sich die Praxis zu wenig kümmert und einem Fatalismus, der die Realität in ihrer Banalität oder Komplexität wie auch immer man das bewertet des Nicht-Rationalen zur Kenntnis nimmt?

Erstaunlich ist jedenfalls, dass auch in den USA nicht-rationales Verhalten aus Unternehmenssicht schon früh Thema war. So schreibt M.W.Reder 1947 über Führungskräfte großer Unternehmen, dass sie Gewinnmaximierung oft deshalb vermeiden würden, um ihren Untergebenen  die Änderung ihrer gewohnten Abläufe nicht zumuten zu müssen und dass es noch viel häufiger vorkommen würde, dass Untergebene ihre Vorgesetzten nicht auf Gewinnsteigerungsmöglichkeiten hinweisen würden, um diese nicht mit der Unzulänglichkeit ihrer Entscheidungen bzw. vorgegebenen Abläufen zu konfrontieren. [frei übersetzt] ("A Reconsideration of the Marginal Productivity Theory"The Journal of Poltical Economy, 1947. S450-459). Mich hat das an einen mir bekannten Fall aus der Gegenwart erinnert. Eine Wohnungsgenossenschaft, die nebenbei eine Spareinrichtung betrieb als zweites Standbein zur Immobilienfinanzierung stand vor der Frage, ob dies angesichts niedriger Zinsmargen und hoher Personalkosten betriebswirtschaftlich noch Sinn machte, sprich ob die Kosten die Vorteile bei der Finanzierung nicht auch mittelfristig überwiegen würden. Betriebswirtschaftlich hätte man sich genauer anschauen sollen wie weit Aufwand und Ertrag auseinander lagen und wie hoch das Risiko war, dass durch die sogenannte Fristeninkongruenz entstand, also potentiell kurzfristig kündbare Spareinlagen zur Finanzierung langfristiger Immobilienprojekte einzusetzen. Statt dessen wurde von einem Mitglied des Leitungskreises die Befürchtung geäußert, dass wenn man die Spareinrichtung schließen würde, die Mitglieder der Genossenschaft das als Indiz verstehen könnten, dass die Genossenschaft kurz vor der Insolvenz stünde. Damit war das Thema der Schließung vom Tisch. Das erstaunliche war, dass die betroffene Wohnungsgenossenschaft vor Ertragskraft und Eigenkapital nur so strotzte und nichts ferner lag, als dass sie Solvenzprobleme hätte bekommen können. Jedes Mitglied bekam jedes Jahr den Geschäftsbericht zugesendet und ein kurzer Blick in die Bilanz hätte ihm/ihr gezeigt, dass alles sehr gut stand. Im Ergebnis kann es also passieren, dass ein Unternehmen nicht optimal handelt, weil es den Anteilseignern nicht zumuten will ihre Rolle auszufüllen. Hier stand also Angst einer klugen Entscheidung im Sinne der BWL entgegen. Auch Leonid Hurwicz thematisiert bereits 1946 nicht-rationales Verhalten in der Wirtschaft, wenn er schreibt, dass es a priori nicht undenkbar sei, dass Unternehmen mehr mittels Routine als mittels Rationalität geleitet würden. (Leond Hurwicz, "Theory of the Firm and of Investment", Econometrica, 1946, Vol. 14 No 2, S 109-139, hier S. 110)

Ein anderer Grund gegen gute BWL-Entscheidungen kann Opportunismus sein. Wenn heute einige junge Startup-Unternehmen versuchen ihr Unternehmen so zu entwickeln, dass es von einem großen Techkonzern aufgekauft wird mit zweifelhaftem Ausgang für die Zukunft des Unternehmens aber sehr lukrativem Ausgang für die Firmengründer, dann ist das aus BWL-Sicht fatal, aber aus finanzieller Sicht der Unternehmer kurzfristig ein sehr sicherer und sehr hoher finanzieller Erfolg. Menschen sind nicht unbedingt Egoisten per se, aber eine sehr gute finanzielle Gelegenheit nicht wahrzunehmen, fällt vielen sehr schwer. Langfristig vermute ich, dass sinnvolle Arbeit und gute Teams für viele Menschen so wichtig werden, dass sie sich gegen große finanzielle Anreize besser abgrenzen können. Wird dann nicht die Gutenbergsche BWL mit ihrem Maximierungsansatz selbst überflüssig? Ist sie nicht sogar zu ignorant, was diese Werteebene angeht? Gewinn- und Nutzenmaximierung können einhergehen mit sinnvoller Arbeit und guten Teams, bedarfswirtschaftliche Nutzenmaximierung wahrscheinlich noch mehr als Gewinnmaximierung, weil sie vom Ansatz her nachhaltiger ist. Ich vermute diese Frage muss an konkreten Fallkonstellationen untersucht werden und nicht so allgemein. Allgemein kann man immerhin sagen, dass wenn es richtig ist, dass Gewinnmaximierung für erwerbswirtschaftliche Unternehmen in wettbewebsintensiven Märkten überlebensnotwendig ist, es unklug ist, darauf zu verzichten in Märkten, die zu einem Zeitpunkt x noch wenig wettbwerbsintensiv sind, weil diese durch neue Entwicklungen wie neue Technologien oder andere Produkte unvermutet viel wettbewerbsintensiver werden können.

Edmund Heinen führt H.A.Simon zitierend drei weitere Aspekte auf, die in der Praxis zu irrationalen bzw aus BWL-Sicht suboptimalen Entscheidungen führen: 1. Routine und gewohnheitsmässige Reaktionen, der mit Entscheidungen betrauten Personen, 2. mangelnde Kenntnisse und Informationen, die diesen Personen zur Verfügung stehen, 3. Interesssen- und Zielkonflikte der einzelnen Entscheidungsträger. (Edmund Heinen, "Die Zielfunktion der Unternehmung"1962, S. 59 in "Zur Theorie der Unternehmung" Helmut Koch (Hrsg.) und H.A.Simon "Administrative Behavior" S.39ff, New York, 1956)

Ich denke allgemein ist eine BWL in Fortführung des Ansatzes von Gutenberg ein Denkrahmen, eine Denkschule für die Praxis, der mit ökonomischem Augenmaß in Bezug auf den Aufwand, der betrieben wird, vor Ort angewendet werden muss und je nach Situation ausgebaut werden kann. 

Hilfreich finde ich es zu sehen, dass das Normative der Gutenbergschen BWL auch ein Pendant in der amerikanischen mikroökonomischen Theory of the firm hat. So zählt Andreas G. Papandreou bei diesem entscheidungsorientierten Ansatz folgende Cf. Talco, Parsons zitierend fünf grundlegende Konzepte auf (the action frame of reference consists of five basic concepts): die Handlung (the act), den Agenten (the agent) , das Ziel  (the end), die Situation, die sowohl steuerbare Mittel (means) als auch hinzunehmende Bedingungen (conditions) enthält und schließlich die Norm, d.h. "das Prinzip, das die Mittel mit dem Ziel in Beziehung setzt" und "Die Norm, die der Ökonom probagiert ist die der Rationalität."[übersetzt durch mich](Andreas G. Papandreou, "Some basic problems in the theory of the firm" S,183 in " A survey of contemporary economics" Bernard F. Haley (Hrsg), 1952 zitierned Cf. Talcott Parsons "The structure of social action" New York, 1937 2nd ed. Glenoe 1949 Ch. 2 for a discussion of the action frame of reference)


weitere Hinweise (ergänzt am 26.7.22)

1. Ein Beispiel für Irrationalität bei Kunden aufgrund fehlender Information mit Auswirkungen auf die Entscheidungen von Unternehmen gibt Günter Wöhe bereits 1959, wenn er schreibt:"Ein Senken des Preises muß bei Markenartikeln nicht zu erhöhtem Abasatz führen, da die Kunden oft mit der Marke und ihrem Preis eine bestimmte Qualiätsvorstellung verbinden, die durch eine Preissenkung erschüttert werden kann."(Günter Wöhe, "Methodologsiche Grundprobleme der Betriebswirtschaftslehre", 1959, S. 203)

2. ein mögliche Kritik an obigem Ansatz ist die Feststellung, dass die langfristige Gewinnmaximeriung der Gesellschafter zwar theoretisch einleuchtet, dass er aber ausblendet, dass dahinter immer Menschen mit bestimmten Einkommensbedarfen stehen. Die Frage ist, wenn das Unternehmen prosperiert und gute Gewinne macht, sodass die Bedarfe an Einkommen gedeckt sind, ob dann nicht das Interesse an weiteren Einkommenssteigerungen der Gesellschafter sinkt (abnehmender Grenznutzen), insbesondere wenn ein großer Teil ihres Einkommen aus dieser Quelle stammt und es ökonomisch für sie ist weniger Zeit und Ernergie in das Unternehmen zu stecken und anderen Interessen nachzugehen. Insoweit wäre die weitere Gewinnsteigerung eigentlich eine Merkwürdigkeit soweit die Gesellschafter sie nicht aus kluger Voraussicht betreiben, um die Konkurrenzsituation und damit die Nachhaltigkeit künftiger Geldflüsse abzusichern. Wenn allerdings die Geldflüsse so hoch waren, dass sie den Bedarf einen ganzes denkbaren Lebens bereits abgedeckt hätten aus Sicht des Gesellschafters dann würde er wahrscheinlich nicht mehr aus ökonomsichen Interesse sondern eher aus der Freude am Schaffen sich weiter in dem Unternehmen einbringen soweit wie es ihm/ihr angenehm ist. Hier wird deutlich dass neben Ertragszielen Gesellschafter weitere Ziele haben, die in bestimmten Konstellationen dominierend für sie werden können. Gegen die Vorstellung ist, dass es ökonomisch für Gesellschafter ist nicht Gewinnmaximierung zu betreiben spricht, dass sie grundsätzlich die Möglichkeit haben für die weitere Gewinnsteigerungsmöglichkeit einen Manager/Agenten anzustellen und dass dies ja in der Praxis auch geschieht, sicher mit gemischtem Erfolg. Mitunter steigen Unternehmensgründer später erneut in ihr Unternehmen ein, um es wieder auf die richtige Spur zu springen wie zum Beispiel Steve Jobs 1997 als Apple kurz vor dem Bankrott stand

https://en.wikipedia.org/wiki/Apple_Inc.#1990%E2%80%931997:_Decline_and_restructuring

Im Fazit wird es in der Praxis deshalb zum Nicht-Ausschöpfen von Gewinnmaximierungspotentialen kommen und dennoch ist das Potential vorhanden Gewinne zu steigern durch kluges Delegieren an fähige Manager.

siehe auch Leonid Hurwicz 1946 noch auszuführen

3. Warum ist bei vollkommener Konkurrenz Gewinnmaximierung notwendig?

Wenn ein Unternehmen seine Preise nicht anpasst, wird es auf Dauer vom Markt verdrängt: Ist sein Preis zu hoch wird es nicht mehr genug Umsatz erwirtschaften, ist sein Preis zu gering wird es nicht mehr genug Gewinn machen, um genügend in das Unternehmen reinvestieren zu können um den status quo aufrecht erhalten zu können.


Mittwoch, 20. Juli 2022

einige Hinweise der Soziologie der Genossenschaften für die Praxis in großen Genossenschaften

Der Soziologe Prof. Friedrich Fürstenberg hat 1995 die Schrift "Zur Soziologie des Genossenschaftswesens" (Duncker & Humblot, Berlin) vorgelegt, die auch heute noch hilfreiche Aussagen für die Praxis in großen Genossenschaften bereithält. Ergänzt werden die Hinweise um Zitate aus einem weiteren soziologischen Buch "Der Genossenschaftsgedanke F.W. Raiffeisens als Kooperationsmodell in der modernen Industriegesellschaft" von Walter Koch, Creator Verlag, 1991.

Auf Seite 22 schreibt Fürstenberg über die Sozialstruktur in Genossenschaften:"Die Interessen der Beteiligten umschließen in einer Genossenschaft mindestens drei Personenkreise: Die Mitglieder, die Mitarbeiter ohne Führungsverantwortung und die Führungsspitze. Für die Konsensusbildung im Sinne der genossenschaftlichen Zielsetzung sind insbesondere die Einstellungen und Verhaltensweisen der Mitglieder entscheidend. Insoweit kommt dem Ausmaß der Mitgliederintegration eine für die Genossenschaft konstitutive Bedeutung zu."

Hinweis zur Zielsetzung und zur Führungsspitze

In der Praxis von Großgenossenschaften kann es vorkommen, dass die Ziele gar nicht auf die Mitgliederförderung fokussiert sind und /oder dass der Aufsichtsrat sich als Teil der Führungsspitze versteht, der Ansprüche der Mitglieder auf Förderung eher abwehrt als dass er sich erinnert,  dass er die Mitglieder repräsentiert und vertritt und seine Aufgabe darin besteht, die Geschäftsführung danach zu kontrollieren, ob sie bestmöglich die Mitglieder fördert. Im Gegensatz zu anderen Gesellschaftsformen werden in Genossenschaften die Aufsichtsräte nur von den Mitgliedern gewählt und mit Mitgliedern besetzt, nicht mit Mitarbeitern im Rahmen der Mitbestimmungsgesetze. Mir ist ein Fall bekannt, dass einem kritischen Aufsichtsrat von einem Kollegen vorgehalten wurde er würde durch seine Kritik einen Keil zwischen Vorstand und Aufsichtsrat treiben wollen. Für diesen Aufsichtsrat waren beide Gremien bereits zu einer Einheit verschmolzen. Im Gegensatz dazu gibt das Genossenschaftsgesetz in Deutschland vor in §38(1): " Der Aufsichtsrat hat den Vorstand bei dessen Geschäftsführung zu überwachen."

Schon Raiffeisen fiel in den von ihm gegründeten Hilfsvereinen auf, dass die Kontrolle seitens der Aufsichtsräte in der Regel zu gering ausfiel. Er schuf deshalb eine eigenständige Position des "Rechners" der Genossenschaft, der für Bilanzierung und Kontrollrechnungen zuständig war.  So schreibt Koch auf Seite  198: "Da Raiffeisen die Erfahrung gewonnen hatte, daß in vielen Darlehenskassen-Vereinen die Kontrollaufgabe vom Verwaltungsrat [anderer Name für Aufsichtsrat] sehr nachlässig ausgeübt wurde, nahm er in seinen Statuten die Bestimmung auf, in regelmäßigen Zeitabständen Revisionen durchzuführen" und auf Seite 199 zitiert Koch Raiffeisen: "Die Stellung des Rechners ist für das gute Bestehen des Vereins eine sehr wichtige, eigentlich die wichtigste. Wenn der Rechner seinen Verpflichtungen nachkommt, und, wie man zu sagen pflegt, ganz an seinem Platz ist, so bildet er gleichsam die Seele des Vereins." (Friedrich Wilhelm Raiffeisen:"Die Darlehenskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter", 1. Auflage, 1866, Seite 39)

In gewisser Weise ist dies vergleichbar mit dem Institut von Bundes- und Landesrechnungshöfen. Es könnte ein interessanter Ansatz sein in großen Genossenschaften eine professionelle Position unabhängig von Weisungsbefugnissen des Vorstandes zu schaffen, die zu Revision und Rechnungskontrolle direkt an die Generalversammlung berichtet und ein eigenes Budget hat. Gerade im Hinblick auf die Sicherstellung einer bestmöglichen wirtschaftlichen Förderung könnte hier eine unabhängige Berechnung viel zu besserer Transparenz und letztlich zu einer höheren Förderung der Mitglieder beitragen, gerade wenn in der jeweiligen Genossenschaft das genossenschaftliche nur noch eine Art Unternehmensmantel ist. Es gibt zwar auch Pflichtprüfungen durch Wirtschaftsprüfer, diese prüfen jedoch in der Regel nur die Wirtschaftlichkeit der Unternehmensführung und nicht, ob das Förderpotential für die Mitglieder ausgeschöpft wird. Insoweit sind sie gerade nicht "ganz an ihrem Platz".

Zur besonderen Stellung des Bundesrechnunghofes zwischen den Gewalten Exekutive, Legislative und Judikative siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesrechnungshof#Stellung

Hinweis Konsensbildung

Fürstenberg macht deutlich, dass es in Genossenschaft um die Herstellung eines Konsens geht, bei dem alle Mitglieder vom Grundsatz her beteiligt sind. Wikipedia definiert Konsens als die übereinstimmende Meinung von Personen zu einer bestimmten Frage ohne verdeckten oder offenen Widerspruch. Eine gute Genossenschaft zeichnet sich also dadurch aus, dass sie Widerspruch von Mitgliedern aufgreift und bereit ist, eigene Positionen weiterzuentwickeln. Sie orientiert sich dabei an der gemeinsamen Zielsetzung.

Hinweis 1 zur Mitgliederbeteiligung

In Großgenossenschaften ist  die Bereitschaft von Mitglieder sich einzubringen oft nur gering, Schon Raiffeisen stellte 1866 fest, "daß ein großer Theil der Mitglieder sich mit den Vortheilen begnügen, welche ihnen die Vereine in Bezug auf die Darlehn gewähren, daß sie aber an den Versammlungen und überhaupt an den Vereinsangelegenheiten wenig Antheil nehmen" (zitiert von Raiffeisen s.o. Seite 37 bei Koch S. 194). Dies geht einher mit einem Strukturproblem, das Fürstenberg benennt als "die Oligarchisierung der Willensbildung und damit einhergehend der wachsende Einfluß hauptberuflich tätiger Experten." (Seite 24). Hier würden moderne Formen der Beteiligung wie losbasierte repräsentative Mitgliederjurys Abhilfe schaffen. Denn dort kann unter einer neutralen, ergebnisoffenen Moderation bei Zahlung einer Aufwandsentschädigung an die Teilnehmer ein echter Austausch auf Augenhöhe und in ausreichender Zeit stattfinden, bei dem auch unterschiedliche Experten gehört werden.

Hinweis 2 zur Mitgliederbeteiligung

Wenn man Fürstenberg ernst nimmt, sind viele Großgenossenschaften derzeit nur noch der Form nach Genossenschaften. Wie der Ansatz Mitgliederjury zeigt, ist dieser Zustand aber nicht in Stein gemeiselt. Vielmehr ist es so, dass Genossenschaften von ihren Strukturmerkmalen immer offen für die Mitwirkung einzelner Mitglieder sind. So ist  Druck auf eine Reform von innen immer möglich. Koch zitiert passend A. de Meuron von mir frei übersetzt mit " Eine Genossenschaft ist ein Haus aus Glas. Da kann nichts versteckt werden, keine Gewinne, keine Verluste, keine dubiosen Geschäfte und auch nicht die Verfolgung von Partikularinteressen." (Koch Seite 192) (A. de Meuron, "le Role moral de la Cooperation", Bale, 1923, S4 das Zitat im Orginal:"La cooperative est une maison de verre. On n'y peut rien cacher, ni benefices, ni pertes, ni operations douteuses, ni poursuite d'interets particuliers." (ohne Sonderzeichen zitiert)).

Dienstag, 19. Juli 2022

Notizen zu "Neue Wohnungsgemeinnützigkeit - Wege zu langfristig preiswertem und zukunftsgerechtem Wohnraum" von Jan Kuhnert und Olof Leps

2017 erschien eine hoch spannende Studie, die die Geschichte der Wohnungsgemeinnützigkeit in Deutschland inklusive der Phase nach Beendigung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes (WGG) 1989 und die Etablierung der Vermietungsgenossenschaft ab 1990 ausführlich beschreibt.

https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-17570-2

Wer sich für Wohnungsgenossenschaften in Deutschand interessiert, für den ist es gut zu verstehen, was damals passierte und wie das heute noch nachwirkt. So besteht bis heute die nachteilige Situation fort, dass Wohnungsgenossenschaften sich im Gegensatz zur Schweiz nicht in einem eigenen Verband organisieren, sondern im Gesamtverband der Wohnungsunternehmen (GdW) als einem Mischverband mit vielen Wohnungsunternehmen, die andere Interessen haben.

In der Studie (die Autoren stehen den Grünen und der Linkspartei nahe) wird außerdem Wohnungsgemeinnützigkeit in den Niederlanden und in Österreich betrachtet, nicht aber die Schweiz. Auffällig ist, dass Genossenschaften bei ihnen nur als Umsetzungsvariante politischer Ziele vorkommen. Das Besondere von Genossenschaften tritt zurück bzw. bleibt unbeachtet. Hier besteht immer die Gefahr, dass Genossenschaften für politische Ziele instrumentalisiert werden. Man beachtet nicht, dass Genossenschaften Selbsthilfevereine für die Mitglieder sind, die darauf angelegt sind, autonom zu handeln.
 
Sehr spannend ist der Vergleich mit Österreich, dessen Wohnungsgemeinnützigkeit die Autoren gut finden und die dort eine sehr große praktische Bedeutung hat. Dabei arbeiten sie eine wichtige Leitidee linker Wohnungspolitik heraus: "Der Gedanke der Verbindung von Wohnraumförderung und Gemeinnützigkeit war darin begründet, dass Erträge, welche mithilfe der Wohnbauförderung erwirtschaftet wurden, im Vermögen der gemeinnützigen Bauvereinigungen gebunden bleiben bzw. reinvestiert werden müssen und somit langfristig den öffentlichen Förderaufwand reduzieren." Das widerspricht § 19(1) Genossenschaftsgesetz wo es heißt " Der bei Feststellung des Jahresabschlusses für die Mitglieder sich ergebende Gewinn oder Verlust des Geschäftsjahres ist auf diese zu verteilen." Mitunter sieht man in der Praxis eine Rücklagenpolitik in traditionellen großen Wohnungsgenossenschaften, die in diesem falschverstandenen-politisch-gemeinnützigen Sinn unterwegs sind. Die Genossenschaftswissenschaft hat dem schon lange widersprochen und erklärt, dass in Genossenschaften Gemeinnützigkeit über die Förderung der Mitglieder zu funktionieren hat, auch wenn das oberflächlich betrachtet ein Widerspruch zu den landläufigen Verständnis von Gemeinnützigkeit zu sein scheint [Keßler 2015]
 
Das Buch geht auch auf die NS-Zeit ein, bleibt aber aus genossenschaftlicher Sicht zu unkritisch. So erwähnt es zum Beispiel den Aspekt, dass ab 1940 über das Gesetz über die Gemeinützigkeit im Wohnungswesen (Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz) die deutsche Familie gefördert werden sollte (S.78) beachtet aber nicht, dass Genossenschaften nur dem Zweck dienen, ihre Mitglieder zu fördern, egal ob sie in Familien leben oder nicht. Der Passus zur Familie war selbst in der letzten Fassung des WGG noch enthalten(!) und wurde erst im letzten Kommentar zum Gesetz von 1988 krititisiert, aber auch nur in Bezug auf das Grundgesetz, nicht im Hinblick auf die Genossenschaftsidee. 
 
Die Studie erwähnt auch den Aspekt, dass bei Auflösung eines Unternehmens nach dem WGG nur der Nominalwert, nicht der Realwert an die Mitglieder fliesen darf (S.106). Das ist ein riesiger Unterschied, fast ein alles oder nichts. Bei einem dem Autor bekannten Beispiel einer Wohnungsgenossenschaft wären das zum Beispiel 150,- € statt circa 6.000 € je Anteil. Bei 20 Anteilen je Mitglied entspricht das 3000,- € statt 120.000 €.  Die Autoren bleiben aber auch hier unkritisch und erwähnen nicht, dass es zum Wesen einer Genossenschaft als Gesellschaft gemeinsamer Unternehmerschaft gehört, im Falle einer Auflösung die Liquidationserlöse unter den Mitglieder anteilsmässig aufzuteilen. Pikant ist der Falle Neue Heimat, den die Studie erwähnt. Dort hat sich der Staat aus Eigeninteresse anscheinend nicht an das eigene Gesetz gehalten (S. 107)
 
Dazu stehen die Überlegungen der CDU Regierung im Kontrast unter Kanzler Helmut Kohl,
 
 
die in Deutschland das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz abschafften, aber die Wohnungsgenossenschaften durch die Schaffung der Instituts der Vermietungsgenossenschaft erhalten haben. 1984 wurde unter Finanzminister Stoltenberg eine Kommision ("Hofbauer-Kommision") einberufen, die zur WGG unter anderem feststellte: "Einzig die Wohnungsgenossenschaften, beschränkt auf die Vermietung an die eigenen Mitglieder, wären als bestandsverwaltende Selbsthilfeorganisationen förderungwürdig und sollten wie privat genutzer Wohnraum steuerbefreit sein" (S.146) Der Vorgängerverband des GdW, der GGW, argumentierte dagegen (S.146). 
 
zu den Autoren der Studie:
Kuhnert studierte Erziehungswissenschaften, Soziologie und Politik
Der zweite Autor Olof Leps ist Berater für den öffentlichen Sektor, hat also auch kein spezielles berufliches Interesse an Genossenschaften
 
Das erklärt vielleicht, warum sie die genossenschaftliche Betriebswirtschaft so wenig beachten. Dennoch ist das Buch sehr lesenswert, nicht zuletzt, weil es ausführlich über die Diskussion berichtet und auch Literaturhinweise nennt, die mehr an Genossenschaften interessiert sind als die Autoren selbst.
 
Wichtig ist es, denke ich, zu erkennen, dass Genossenschaften zum einen von vielen Interessenskreisen für eigene Zwecke als nutzbar und attraktiv angesehen werden, dass sie aber per se überparteilich sind und nach Regeln funktionieren, die für alle Demokraten akzeptabel sind, also neben bürgerlich-liberalen Kreise auch für linke Kreise, soweit sie die soziale Marktwirtschaft als Ordnungsrahmen akzeptieren und nicht doch die Produktionsmittel verstaatlichen wollen oder Unternehmen ihre Autonomie nehmen wollen (letzteres hat viele Graustufen, auch im Bereich Bauen und Wohnen, wie das Bündnis für Wohnen in Hamburg zeigt, bei dem Einfluß genommen wird auf die "Produktionspläne" eigentlich autonomer privatwirtschaftlicher Unternehmen). Sozial ausgerichtete Politiker müssen, denke ich, lernen, dass sie Genosseschaften nicht mit kommunalen Wohnungsunternehmen gleichsetzen können, sondern dass Genossenschaften eigene Stärken haben und es für alle am besten ist, wenn man Genossenschaften nach ihrer eigenen Facon glücklich werden lässt. So können sie am meisten zu einer guten Gesellschaft beitragen. Was das für einzelne Wohnungsgenossenschaften bedeutet, kann am besten in jedem Fall indivduell herausgefunden werden in der gemeinsamen Beratung und im Konsens der Mitglieder.
 
Nachbemerkung: Ich konnte das Buch nur am Rande und auszugsweise lesen, weil ich keine Forschungsmittel zur Verfügung habe. Wer meine Arbeit finanziell unterstützen möchte, kann sich gerne mit mir in Verbindung setzen.

Literatur

Keßler, Jürgen, Kommentar zur Gemeinnützigkeit von Genossenschaften, Skills Eg, Newslwetter der EBZ, 2/2015 Seite 4, https://www.e-b-z.de/presse/publikationen.html