In Deutschland existieren mehr als 2.000 Wohnungsgenossenschaften, von denen viele über 1.000 Wohnungen, manche sogar über 10.000 Wohnungen für ihre Mitglieder gebaut haben und in Schuß halten. Während viele kleine Genossenschaften und Baugemeinschaften ganz natürlich am Nutzen ihrer Mitglieder ausgerichtet sind, hat in großen Genossenschaften über die Jahrzehnte ein hauptberufliches Management immer mehr an Bedeutung gewonnen. Das führte oft dazu, dass die Beteiligung der Mitglieder weniger gelebt wurde und mehr mit Blick auf Rendite gewirtschaftet wurde. Die konsequente wirtschaftliche Förderung der Mitglieder, wie es der eigentliche Zweck von Genossenschaften ist, verlor an Bedeutung. Wenn nun seit einigen Jahren Basisgruppen entstehen, die wieder mehr Mitbeteiligung und Mitglierderförderung einfordern, stoßen sie je nach Unternehmenskultur nicht nur bei manchen Organmitgliedern wie Aufsichtsräten oder Vorständen auf Abwehr, sondern auch bei einfachen Mitgliedern oder deren Vertretern. Einigen machen solche Impulse Angst, weil die Kultur ihrer Genossenschaft plötzlich hörbar hinterfragt wird und ungewiß ist, wohin das führt. Hier hilft es zu klären, ob es etwas gibt, was die eigene Genossenschaft zusammenhalten kann, wenn man die Sicherheit nicht wie vielleicht gewohnt an Personen festmacht, die viele Jahre verantwortlich für die Genossenschaft tätig waren und die Grundlagen der Unternehmenspolitik inhaltlich identisch jedes Jahr gleich kommunizierten. Wenn durch neue Impulse klar wird, dass es weitere Handlungsoptionen gibt und die Mitglieder letztlich eine größere Auswahlmöglichkeit haben, in welche Richtung die Genossenschaft sich weiterentwickeln soll, hilft es, Dinge klar zu benennen, die weiter Sicherheit vermitteln und Orientierung geben können, an Hand welcher Kriterien bei Fragen der Unternehmenspolitik entschieden werden soll, wenn diese Aufgabe nicht einfach dem Vorstand überlassen wird.
Dafür helfen Grundregeln wie ich sie in der Hamburger Erklärung http://liberalundkooperativ.blogspot.com/2019/03/hamburger-erklarung.html formuliert habe und wie sie sich aus der Genossenschaftsidee ableiten lassen. Diese ideele Verankerung kann helfen, die gefühlte Abhängigkeit von einzelnen Personen zu senken. Außerdem ist es wichtig, dass Mitglieder positive Erfahrungen mit der Beteiligung an Entscheidungen in Gruppen machen, auch und gerade die, die in ihrem Leben bisher wenig positive Erfahrungen damit gemacht haben.
Solange diese Impulse von der Geschäftsführung nicht aufgegriffen werden, kommt hier sich selbst organisierten Basisgruppen eine besondere Bedeutung zu, diese Erfahrungen vorzuleben und für alle Mitglieder über eine Beteiligung zu ermöglichen. Viele Menschen haben Erfahrungen mit Gruppenprozessen in Vereinen, die sie hier einbringen können. Die Möglichkeit für Erfahrungsaustausch bei der Bildung solcher Gruppen geben zum Beispiel die Vernetzungsinitiativen Genossenschaft-von-unten Hamburg https://genossenschaft-von-unten-hamburg.de/ und Berlin http://www.genossenschaft-von-unten.eu/
Erkennt die Geschäftsführung, dass dieser Prozess positiv ist, kann sie ihn mitgestalten, indem sie zum Beispiel Personen, die glaubwürdig für diese neuen Impulse stehen, in das operative Management einbezieht. Sie kann Schulungen für Interessierte einkaufen zu Themen wie kollegialer Führung, wie sie zum Beispiel Bernd Oestereich mit seiner Werkstatt für kollegiale Führung https://kollegiale-fuehrung.de/portfolio-item/kollegen/ anbietet, und sie kann die Funktion eines Beteiligungsmanagers einrichten, wie es zum Beispiel die Wohnungsgenossenschaft Freie Scholle eG in Bielefeld gemacht hat https://www.freie-scholle.de/wohnen/genossenschaft/beteiligung.html .
In der Praxis wird es dabei auch zu Fehlern, Konflikten und Frustrationen kommen. Wenn es jedoch gelingt, das gemeinsame Ziel als Genossenschaft nicht aus den Augen zu verlieren und sich gegenseitig und gemeinsam zuzubilligen aus Fehlern zu lernen, wird sich nach und nach die Unternehmenskultur hin zu mehr Beteiligung entwickeln. Dann besteht die Möglichkeit, dass viele Wohnungsgenossenschaften ein höheres Niveau der Mitgliederförderung entfalten und damit noch attraktiver und sichtbarer als gesellschaftspolitisch gute Wahl zwischen gewinnmaximierenden Unternehmen und Wohnungsunternehmen im Staatsbesitz werden.
Montag, 29. April 2019
Mittwoch, 6. März 2019
Hamburger Erklärung
Heute veröffentliche ich hier den aktuellen Stand der Hamburger Erklärung, einer Auflistung wichtiger Prinzipien, nach denen Wohnungsgenossenschaften ihre Unternehmenspolitik ausrichten sollen. Wer Interesse hat die Erklärung als Ertsunterzeichner zu unterstützen, möge sich melden bei frankgiebel(at)web.de
Dazu tragen wir bei, indem wir die Prinzipien formulieren, die sich aus der Genossenschaftsidee für die Führung von Woges ergeben, diese öffentlich bekannt machen und zum Mitunterzeichnen einladen:
Hamburger
Erklärung
Wir, die Unterzeichner der Hamburger
Erklärung geben diese Erklärung ab, weil wir die
Genossenschaftsidee lebendig halten wollen und weil wir dafür
eintreten, dass sie die Unternehmenspolitik in
Wohnungsgenossenschaften (Woges) prägt.
Dazu tragen wir bei, indem wir die Prinzipien formulieren, die sich aus der Genossenschaftsidee für die Führung von Woges ergeben, diese öffentlich bekannt machen und zum Mitunterzeichnen einladen:
1. Förderzweck
Zweck von Wohnungsgenossenschaften wie
von jeder wirtschaftlichen Genossenschaft ist die wirtschaftliche
Förderung ihrer Mitglieder. Dies ist in § 1 des
Genossenschaftsgesetzes in Deutschland so benannt. Da dies ihr
einziger Zweck ist, ist dieser bestmöglich zu erfüllen. Im
Gegensatz zu gewinnmaximierenden wohnungswirtschaftlichen Unternehmen
sind wir Wohnungsgenossenschaften deshalb nutzenmaximierende
Unternehmen für unsere Mitglieder.
2. Daraus lassen sich folgende
Grundprinzipien und Auswirkungen ableiten:
2.1.Verursacherprinzip
Die Nutzungsgebühr orientiert sich an
den Selbstkosten, das heißt im Grundsatz verlangen wir als
Nutzungsgebühr den Betrag, den uns die jeweilige Wohnung selbst
kostet. Dies wird je nach Bedarf ergänzt um Beträge, die wir
benötigen, um ausreichend Eigenkapital aufbauen zu können um die
langfristige Entwicklung unserer Unternehmens im Sinne unserer
Mitglieder sicherstellen zu können.
2.2. Gleichbehandlungsprinzip
Aus dem Verursacherprinzip folgt, dass
allen Mitgliedern die jeweiligen Wohnungen zu den gleichen Gebühren
angeboten werden, soweit nicht für das jeweilige Mitglied
zusätzliche Einbauten auf Kosten der Gemeinschaft vorgenommen
werden. Das heißt bei einem Wohnungswechsel erhalten neu einziehende
Mitglieder gleich gute Konditionen wie die dort bereits
wohnenden.
2.3. Beschränkung von
Quersubventionierung
Aus dem Verursacherprinzip und aus dem
betriebswirtschaftlichen Prinzip, dass nur kostendeckende "Produkte
und Dienstleistungen" zum langfristigen Unternehmenserfolg
beitragen können, folgt außerdem, dass Wohnanlagen sich dauerhaft
selber tragen müssen und keine Quersubventionierung durch andere
Wohnanlagen erfolgt. Sollte ausnahmsweise und fallbedingt von
diesem Grundsatz abgewichen werden, ist dies nur über einen
Beschluss der Generalversammlung bzw. der Vertreterversammlung
möglich.
3. Wohnrecht
Die Liegenschaften der Genossenschaften
dürfen nicht weiterverkauft werden. Sie sind der Gewinnmaximierung
entzogen und bleiben langfristig günstig. Die Bewohner genießen
eine hohe Wohnsicherheit. Mitglieder der
Genossenschaft haben ein Wohnrecht und man kann ihnen die Wohnung
nicht einfach kündigen.
4. Mitbestimmung
Wer etwas verändern oder ein Projekt
lancieren möchte, kann einen
Antrag an die Generalversammlung
stellen. In großen Woges mit einer Vertreterversammlung hat
dieses Recht jeder Vertreter. Noch aktiver mitgestalten kann sein
Wohnumfeld wer im Aufsichtsrat oder in einer Arbeitsgruppe mitwirkt.
5. Gesellschaftspolitische Wirkung
Unsere größte gesellschaftspolitische
Wirkung entfalten wir Wohnungsgenossenschaften dadurch, dass wir
guten und günstigen Wohnraum bieten, wir durch niedrige
Nutzungsgebühren breiten Bevölkerungskreisen eine höhere Kaufkraft
aus ihren Einkommen ermöglichen und dadurch, dass wir dafür sorgen,
dass sie als anteilige Eigentümer an einem Immobilienunternehmen
nachhaltig Vermögen bzw. Kapital aufbauen können im Sinne des
Distributismus.
Wir wollen gute und faire Arbeitgeber
sein und ein wertvoller Teil der Quartiere und Kommunen, in denen wir
angesiedelt sind. Wir unterstützen den Ansatz der guten
Unternehmensführung in Genossenschaften - good governance - und die
Weiterentwicklung der Grundsätze guter Unternehmensführung im Geist
und Sinn dieser Erklärung.
Danksagung
Viele Anregungen kommen aus der
lebendigen Kultur der Schweizer
Woges, insbesondere den Grundprinzipien, wie sie durch
"Wohnbaugenossenschaften
Schweiz, Verband
der gemeinnützigen Wohnbauträger " formuliert werden.
Weitere Inspirationen waren die Rochdaler Prinzipien, das Leitbild
der Selbstbau eG in Berlin, die gemeinsame Arbeit in der Basisgruppe
Genossenschaftsidee der gem. Wohnungsbaugenossenschaft Bergedorf
Bille und die dortige Gremienarbeit mit Vorstand und Kollegen/innen
im Aufsichtsrat. Dank geht an Gerald Wiegner von der
Interessengemeinschaft der Genossenschaftsmitglieder igenos eV.
Hilfreich waren Treffen Hamburger Genossenschaftsmitglieder unter der
Schirmherrschaft von Dr. Bosse vom Mieterverein zu Hamburg und die
Autoren von inspirierenden Schriften und Vorträgen Daniel Brunner,
Prof. Volker Beuthin, Prof. Ernst-Bernd Blümle, Hartmut Glenk, Prof.
Jürgen Keßler, Prof. Manfred Kühnberger, Günther Ringle, Georg
Scheumann, Prof. Reinbert Schauer und Jozef Zolk, .
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