Mittwoch, 20. Oktober 2021

Das zwei-Klassen-System von staatlichen Bahnunternehmen wie der Deutschen Bahn ist nicht mehr zeitgemäß

Die Deutsche Bahn ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht als staatliches Unternehmen der Bedarfswirtschaft zuzurechnen im Gegensatz zu Unternehmen, die auf Gewinnerzielung und Rendite ausgerichtet sind. Während gewinnmaximierende, ertragswirtschaftliche Unternehmen davon leben, Produkte und Dienstleistungen entsprechend den mit Kaufkraft ausgestatteten Wünschen von Kunden herzustellen und zu vermarkten, geht es bei bedarfswirtschaftlichen Unternehmen darum, Grundbedarfe abzudecken. Goethe sagte in Hermann und Dorothea "Vieles wünscht sich der Mensch, und doch bedarf er nur wenig" (ausführlich hier) 

Hinweis: Die Betriebswirtschaftslehre muss sich hier noch weiterentwickeln, siehe auch mein Artikel hier. Die Maslowsche Bedürfnispyramide, die in den Wirtschaftswissenschaften weitgehend anerkannt ist, fällt hinter Goethe insoweit zurück, dass sie den Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen verwischt statt ihn deutlich zu machen. Zudem ist das Bild einer Pyramide mit einer breiten Basis für Grundbedürfnisse und einer Spitze für die Erfüllung individueller Selbstverwirklichungsbestrebungen unpassend für die Wirklichkeit sehr vieler Menschen in ökonomisch weit entwickelten Gesellschaften, die den größten Teil ihrer Zeit und Energie im Bereich der oberen Pryamidenhälfte aufwenden.

Der wirtschaftliche Vorteil von bedarfswirtschaftlichen Unternehmen ist, dass sie relativ leicht Effizienzgewinne über economies of scale erzielen können, da Grundbedarfe Goethe folgend quasi alle Menschen teilen und deshalb danach eine potentiell sehr hohe Nachfrage besteht, wenn sie in ausreichender Qualität zu leistbaren Preisen angeboten wird.  

Wenn die Deutsche Bahn, die SBB in der Schweiz oder die SJ in Schweden als staatseigene Bahnunternehmen 1.Klasse-Bereiche anbieten, verlassen sie den Bereich der Erfüllung von Grundbedürfnissen und betreiben Produkt- und Preisdifferenzierung. So kann unterschiedliche hohe Kaufkraft abgeschöpft werden. Die besonderen ökonomischen Vorteile von economies of scale werden damit verlassen. Beispielsweise ist das Design und die Herstellung der Züge aufwendiger, da beim Zughersteller und dessen Lieferanten - zum Beispiel beim aktuellen ICE4 Siemens  - 2 unterschiedliche Sitze geplant und hergestellt werden müssen. 

Gerade in der aktuellen Zeit mit Klimakrise und Artensterben sollten Staatsbahnen sehr ernsthaft prüfen, ob 2 Klassen noch zeitgemäß sind. Züge sollten sowohl im Betrieb als auch in der Herstellung so schnell wie möglich CO2 neutral werden und natürliche Ressourcen sparsam einsetzen. In 1.-Klasse-Großraumwagen von zum Beispiel dem ICE4 (Siemens) oder dem schwedischen X55 (Bombardier) sind nur 3 Sessel je Wagenbreite platziert statt 4 in der 2. Klasse. Da vermutlich auch der Reihenabstand in der 1. Klasse größer ist, bedeutet das einen schlechteren Ressourceneinsatz von über 25%, vermutlich circa 30%. Solange erneuerbare Energien knapp sind, sollten staatliche Unternehmen durch ihre Nachfrage nicht mehr als nötig von ihr beanspruchen. Es wäre gesellschaftlich fahrlässig, ein Verbesserungspotential in dieser Größerordnung vorschnell zur Seite zu schieben und sich darauf zu verlassen, ein Mehrklassensystem sei unverzichtbar, da "man es ja schon immer so gemacht hat".

Bei einer genaueren Betrachtungsweise wäre gegebenenfalls herauszuarbeiten, inwieweit die Entwicklung moderner Gesellschaften aus Stände- bzw. Klassengesellschaften mit ein Grund dafür sind, warum sich bei Bahnen mehrere Beförderungsklassen bis heute gehalten haben. Junge Unternehmen wie der Anbieter des Flixtrain haben diese Klasseneinteilung bei ihren Zügen und Bussen nicht. Es spricht weniger dagegen, dass auf einem gemeinsam genutzten Schienennetz gewinnorientierte Zugunternehmen mehrere Komfort-Klassen anbieten, aber eben keine gemeinnützigen öffentliche Unternehmen. Sicher gibt es auch psychologische Aspekte, die einer genaueren Betrachtung wert sind. Kunden können die 1. Klasse bevorzugen nicht nur weil die Sitze bequemer sind und sie dort mehr Platz haben, sondern weil sie die Wahrscheinlichkeit höher einschätzen, nicht mit ihnen unangenehmen Zeitgenossen konfrontiert zu werden. Auch das ist nicht verboten, passt aber ebenfalls nicht wirklich zur Auffassung eines öffentlichen Unternehmens in einer demokratischen Gesellschaft. Ein staatliches Unternehmen sollte und hat ja vermutlich auch eine positive Grundeinstellung gegenüber den Bewohnern des Landes, in dem es wirkt, und teilt nicht die Einschätzung, dass Bürger vor einander geschützt werden müssen. Gerade der potentielle  Austausch aller mit allen hilft, die Gesellschaft zusammen zu halten und im politischen Diskurs die besten Antworten zu finden. Staatsbahnen sind Teil des öffentlichen Raums und ihr Potential als Begegnungsraum zwischen Menschen sollte positiv und nicht negativ gesehen werden und deshalb nicht eingeschränkt werden.

Mein Fazit ist, dass fast alles dafür spricht, dass Staatsbahnen ab sofort keine Züge mit mehreren Klassen mehr einkaufen, ihre Anforderungskataloge an und ihre Kommunikation mit Zugherstellern aktualisieren und auch einen Umbau vorhandener Züge unvoreingenommen prüfen.

 

 

sinnvolle Erweiterung der allgemeinen Betriebswirtschaftslehre, zur Habilitationsschrift von Michaela Haase - Institutionenökonomische Betriebswirtschaftstheorie

Zur Frage einer zweiten bedarfswirtschaftlich-nutzenmaximierenden Säule in der ABWL ergänzend zu einer erwerbswirtschaftlich-gewinnmaximierenden war es für mich inspirierend, in die Habilitationsschrift von Michaela Haase "Institutionenökonomische Betriebswirtschaftstheorie: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre auf sozial- und institutionentheoretischer Grundlage" zu sehen [Gabler Verlag, 2000]:

Haase schildert im Kapitel 2  "Ausgangssituation" eine Krise in der ABWL unter anderem dahingehend, dass in der Lehre und Forschung Spezialisierungen nach Branchen und betrieblichen Funktionen dominieren, aber auch hinsichtlich der Frage, ob sie Teil der Wirtschaftswissenschaft sei oder  Teil einer Verhaltenswissenschaft, welche selbst wieder in ihrer Ausrichtung umstritten sei.

Sieht man die ABWL als Teil der Wirtschaftswissenschaft an, die Theoriebildung betreibt, um der Praxis relevante normative Aussagen zur Verfügung stellen zu können, kann man fragen, zu welchen Aussagen die ABWL seit und mit Erich Gutenberg gefunden hat und ob diese den Aufwand lohnen, wozu diese dienen können als allgemeiner Orientierungsrahmen und/oder weitergehend, ob sie immer noch eine gewisse Originalität haben. Eine Aussage bei Gutenberg war zum Beispiel, dass, wenn in einer Marktwirtschaft Produktionsfaktoren relativ breit verfügbar sind, und es viele potentielle Konkurrenten gibt, der Engpass zur Gewinnerzielung weniger in der Leistungserstellung als beim Absatz der Leistung an die Kunden liegt und dass deshalb das Produktionsprogramm dem Absatzplan folgen sollte und nicht umgekehrt. Dies gilt aber nur insoweit die Produkte verschiedener Unternehmen sich nur wenig unterscheiden und auch durch eine weitere Entwicklung wenig unterscheidbar gemacht werden können. Aktuell gibt es sicher wieder sehr viele Chancen, Produkte dadurch unterscheidbar zu machen, dass sie klimaneutral hergestellt werden und sichergestellt wird, dass in Vorstufen der Herstellung ebenfalls Klimaneutralität, sorgsamer Umgang mit Ressourcen, hohe Umweltschutzstandards aber auch gute Arbeitsbedingungen erfüllt werden. Bei der bei Haase diskutierten Spannung zwischen einer relativ aussagearmen ABWLund deren Verdrängung durch funktionale und sektorale BWLs fehlt erstaunlicherweise die Beobachtung, dass es unternehmensmorphologische unterschiedliche Verhältnisse in der BWL gibt, nämlich ob eben Unternehmen hauptsächlich auf Gewinnerzielung und Rendite ausgerichtet sind wie normale GmbHs und Aktiengesellschaften oder einen eher gemeinnützigen Charakter haben wie öffentliche Unternehmen, Stiftungsunternehmen, Unternehmen sozialer Träger wie zum Beispiel von Kirchen oder auch Genossenschaften als Selbsthilfevereine. Dass dies in der Diskussion in obigem Buch nicht vorkommt, könnte darauf hindeuten, dass die mögliche Stärkung der ABWL durch ein Zwei-Säulen-Modell hier auch in Bezug auf inhaltliche Aussagen wieder mehr Gewicht verleiht, weil sowohl die Gewinnmaximierung als auch die Nutzenmaximierung aus Nutzersicht zwei gleichberechtigte Zielgrößen darstellen, an der sich dann weitere normative Aussagen der ABWL orientieren können.