Die Deutsche Bahn ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht als staatliches Unternehmen der Bedarfswirtschaft zuzurechnen im Gegensatz zu Unternehmen, die auf Gewinnerzielung und Rendite ausgerichtet sind. Während gewinnmaximierende, ertragswirtschaftliche Unternehmen davon leben, Produkte und Dienstleistungen entsprechend den mit Kaufkraft ausgestatteten Wünschen von Kunden herzustellen und zu vermarkten, geht es bei bedarfswirtschaftlichen Unternehmen darum, Grundbedarfe abzudecken. Goethe sagte in Hermann und Dorothea "Vieles wünscht sich der Mensch, und doch bedarf er nur wenig" (ausführlich hier)
Hinweis: Die Betriebswirtschaftslehre muss sich hier noch weiterentwickeln, siehe auch mein Artikel hier. Die Maslowsche Bedürfnispyramide, die in den Wirtschaftswissenschaften weitgehend anerkannt ist, fällt hinter Goethe insoweit zurück, dass sie den Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen verwischt statt ihn deutlich zu machen. Zudem ist das Bild einer Pyramide mit einer breiten Basis für Grundbedürfnisse und einer Spitze für die Erfüllung individueller Selbstverwirklichungsbestrebungen unpassend für die Wirklichkeit sehr vieler Menschen in ökonomisch weit entwickelten Gesellschaften, die den größten Teil ihrer Zeit und Energie im Bereich der oberen Pryamidenhälfte aufwenden.
Der wirtschaftliche Vorteil von bedarfswirtschaftlichen Unternehmen ist, dass sie relativ leicht Effizienzgewinne über economies of scale erzielen können, da Grundbedarfe Goethe folgend quasi alle Menschen teilen und deshalb danach eine potentiell sehr hohe Nachfrage besteht, wenn sie in ausreichender Qualität zu leistbaren Preisen angeboten wird.
Wenn die Deutsche Bahn, die SBB in der Schweiz oder die SJ in Schweden als staatseigene Bahnunternehmen 1.Klasse-Bereiche anbieten, verlassen sie den Bereich der Erfüllung von Grundbedürfnissen und betreiben Produkt- und Preisdifferenzierung. So kann unterschiedliche hohe Kaufkraft abgeschöpft werden. Die besonderen ökonomischen Vorteile von economies of scale werden damit verlassen. Beispielsweise ist das Design und die Herstellung der Züge aufwendiger, da beim Zughersteller und dessen Lieferanten - zum Beispiel beim aktuellen ICE4 Siemens - 2 unterschiedliche Sitze geplant und hergestellt werden müssen.
Gerade in der aktuellen Zeit mit Klimakrise und Artensterben sollten Staatsbahnen sehr ernsthaft
prüfen, ob 2 Klassen noch zeitgemäß sind. Züge sollten sowohl im
Betrieb als auch in der Herstellung so schnell wie möglich CO2
neutral werden und natürliche Ressourcen sparsam einsetzen. In 1.-Klasse-Großraumwagen von zum Beispiel dem ICE4
(Siemens) oder dem schwedischen X55 (Bombardier) sind nur 3 Sessel je
Wagenbreite platziert statt 4 in der 2. Klasse. Da vermutlich auch
der Reihenabstand in der 1. Klasse größer ist, bedeutet das einen
schlechteren Ressourceneinsatz von über 25%, vermutlich circa 30%.
Solange erneuerbare Energien knapp sind, sollten staatliche
Unternehmen durch ihre Nachfrage nicht mehr als nötig von ihr
beanspruchen. Es wäre gesellschaftlich fahrlässig, ein Verbesserungspotential in dieser Größerordnung vorschnell zur Seite zu schieben und sich darauf zu verlassen, ein Mehrklassensystem sei unverzichtbar, da "man es ja schon immer so gemacht hat".
Bei einer genaueren Betrachtungsweise wäre gegebenenfalls
herauszuarbeiten, inwieweit die Entwicklung moderner Gesellschaften
aus Stände- bzw. Klassengesellschaften mit ein Grund dafür sind, warum sich
bei Bahnen mehrere Beförderungsklassen bis heute gehalten haben. Junge
Unternehmen wie der Anbieter des Flixtrain haben diese
Klasseneinteilung bei ihren Zügen und Bussen nicht. Es spricht weniger dagegen, dass auf einem
gemeinsam genutzten Schienennetz gewinnorientierte Zugunternehmen
mehrere Komfort-Klassen anbieten, aber eben keine gemeinnützigen
öffentliche Unternehmen. Sicher gibt es auch psychologische Aspekte,
die einer genaueren Betrachtung wert sind. Kunden können die 1.
Klasse bevorzugen nicht nur weil die Sitze bequemer sind und sie dort
mehr Platz haben, sondern weil sie die Wahrscheinlichkeit höher
einschätzen, nicht mit ihnen unangenehmen Zeitgenossen konfrontiert
zu werden. Auch das ist nicht verboten, passt aber ebenfalls nicht
wirklich zur Auffassung eines öffentlichen Unternehmens in einer
demokratischen Gesellschaft. Ein staatliches Unternehmen sollte und
hat ja vermutlich auch eine positive Grundeinstellung gegenüber den
Bewohnern des Landes, in dem es wirkt, und teilt nicht die
Einschätzung, dass Bürger vor einander geschützt werden müssen.
Gerade der potentielle Austausch aller mit allen hilft, die
Gesellschaft zusammen zu halten und im politischen Diskurs die besten
Antworten zu finden. Staatsbahnen sind Teil des öffentlichen Raums und ihr Potential als Begegnungsraum zwischen Menschen sollte positiv und nicht negativ gesehen werden und deshalb nicht eingeschränkt werden.
Mein Fazit ist, dass fast alles dafür spricht, dass Staatsbahnen ab sofort keine Züge mit mehreren Klassen mehr einkaufen, ihre Anforderungskataloge an und ihre Kommunikation mit Zugherstellern aktualisieren und auch einen Umbau vorhandener Züge unvoreingenommen prüfen.