In seiner Dissertation über die genossenschaftliche Rückvergütung in Wohnungsunternehmen grenzt Klaus-Peter Hillebrand deutsche Genossenschaften "vom Modell der economie sociale romanischer Provenienz" ab (S. 97 bzw. S. 149). Ein Blick in das französische Wikipedia zeigt, dass es in Frankreich tatsächlich eine weitreichende, wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Ansatz von Sozialunternehmen gab, die sich von der deutschen liberaleren Prägung der Genossenschaftswissenschaft deutlich unterscheidet. Ich möchte hier auf zwei Unterschiede aufmerksam machen zwischen beiden Ansätzen und Aussagen machen, was wir jeweils daraus lernen und nutzbar machen können für die Praxis in Genossenschaften.
1. von Frankreich lernen: sinnvolle Leitprinzipien
Ein Vorteil des französischen Ansatzes liegt darin, dass er klare Prinzipien benennt, die in der Praxis immer wieder als Leitlinien herangezogen werden können. Etwas Ähnliches ist in Deutschland nicht gesetzlich verankert. Ich selbst habe zwar ebenfalls Prinzipien (für Wohnungsgenossenschaften) benannt mit der Hamburger Erklärung; diese haben aber keine Gesetzeskraft erlangt und sind soweit ich weiß auch nicht in einen Corporate Governance Kodex für Genossenschaften eingeflossen (noch nicht;)) und werden auch von der Genossenschaftspraxis bisher wenig diskutiert.
Bei Wikipedia wird für den französischen Ansatz als Prinzip benannt, dass "das Menschliche Vorrang vor dem Kapital haben soll" [la primauté de l’humain sur le capital]. Dass dies in der Praxis in Deutschland mitunter unter die Räder kommt, zeigt das Beispiel einer Wohnungsgenossenschaft, das mir zugetragen wurde. Dort wurde vom Vorstand das Ziel einer Eigenkapitalrendite von 4% vorgegeben auch in Zeiten, als das allgemeine Zinsniveau für Immobilienkredite unter 2% fiel. Hintergrund war, dass in der Satzung eine angemessene Eigenkapitalrentabilität gefordert wurde, etwas was nach meiner Einschätzung in der Satzung einer Genossenschaft mit Privathaushalten als Mitgliedern und Nutzern nichts zu suchen hat. Im konkreten Fall der Genossenschaft bestand bereits über 60% der Bilanzsumme aus Eigenkapital. Da satzungsgemäß nur 4% Dividende auf das Nennkapital, nicht das bilanzielle Eigenkapital an die Mitglieder ausgeschüttet werden konnte, führte das zu der erstaunlichen Situation, dass Jahr für Jahr 90% der Jahresgewinne als weitere Rücklagen dem Eigenkapital zugeführt wurden. Da der Vorstand an seiner Bewertung festhielt, dass die Angemessenheit konstant bei 4% läge und Aufsichtsrat und Vertreterversammlung ihm mehrheitlich folgten, stieg damit die Anforderung an den neuen Jahresgewinn von Jahr zu Jahr. Die Mitglieder mussten also jedes Jahr mehr Einnahmen aus Nutzungsbeiträgen (Mieten) erwirtschaften, obwohl die Fremdkapitalzinsen immer niedriger wurden und eigentlich Nutzungsbeitragsenkungen möglich gewesen wären. Das führte dazu, dass das Unternehmen begann in Geld zu schwimmen und in Immobilien investierte, die für die eigenen Mitglieder wenig attraktiv waren.
In Artikel 1 des französischen Gesetzes heißt es zu Prinzipien:
"La coopérative est une société constituée par plusieurs personnes volontairement réunies en vue de satisfaire à leurs besoins économiques ou sociaux par leur effort commun et la mise en place des moyens nécessaires.
Elle exerce son activité dans toutes les branches de l'activité humaine et respecte les principes suivants : une adhésion volontaire et ouverte à tous, une gouvernance démocratique, la participation économique de ses membres, la formation desdits membres et la coopération avec les autres coopératives."
in meiner Übersetzung mit Hilfe von google translator und deepL
"Die Genossenschaft ist eine Gesellschaft, die von mehreren Personen gegründet wird, die sich freiwillig zusammengeschlossen haben, um ihre wirtschaftlichen oder sozialen Bedürfnisse durch gemeinsame Anstrengungen und die Schaffung der erforderlichen Mittel zu befriedigen. Sie übt ihre Tätigkeit in allen Bereichen der menschlichen Tätigkeit aus und respektiert folgende Grundsätze: freiwillige Mitgliedschaft und Offenheit für alle, demokratische Leitung, wirtschaftliche Beteiligung ihrer Mitglieder, Ausbildung dieser Mitglieder und Kooperation mit anderen Genossenschaften."
Ich weiß nicht inwieweit diese Prinzipien tatsächlich durchsetzbar sind und ob dies durch ihre Nennung im Gesetz beabsichtigt war. So bekommen sie auf jeden Fall mehr Gewicht und sind besonders für alle Mitglieder von Genossenschaften als Orientierung sichtbar und können helfen, Genossenschaften wieder dahin zu bringen, das zu machen, wofür sie einmal gegründet wurden. Man sollte jedoch auch bereit sein im Einzelfall zu schauen, inwieweit ein Prinzip hilfreich ist oder schadet. Wenn eine Wohnungsgenossenschaft zum Beispiel bereits viele Mitglieder hat, die noch eine Wohnung benötigen, macht es wenig Sinn weitere Mitgliedschaften zuzulassen. Oder ein Softwareberatungs- und Unternehmensberatungsunternehmen, das als Produktivgenossenschaft geführt wird, wird sich nicht unbedingt für andere Mitglieder öffnen können, die nicht auch auf der Arbeitsebene eine gute Ergänzung sind. Gut gefällt mir die Idee der Ausbildung der Mitglieder. Das heißt, man versucht sie ins Boot zu bekommen nicht nur als formale Mitentscheider sondern ihre Kompetenz zu erhöhen. Auch wenn sie in Deutschland Mitunternehmer sind kann das motivieren der Tendenz entgegenzuwirken für sie alles zu regeln, so dass sie sich in einer passiven Rollen finden und sich gar nicht mehr zutrauen, unternehmerisch mit zu entscheiden. Auch die Idee mit anderen Genossenschaften zu kooperieren, auch in der gleichen Branche, ist gar nicht so selbstverständlich. In einem konkreten Fall sprach sich ein Mitglied einer Genossenschaft dagegen aus, dass ein anderes Mitglied einer sich neu gründenden Genossenschaft beratend zur Seite stand.
2. von Deutschland lernen: das Minimalkostenprinzip im deutschen Genossenschaftsverständnis ist im Gegensatz zum französischen Gießkannenprinzip wirtschaftlich effizient und damit nutzenmaximierend und nachhaltig
In einem sehr empfehlenswerten Buch über nachhaltiges Wirtschaften [Walter Kahlenborn u.a. "Auf dem Weg zu einer Green Economy : wie die sozialökologische Transformation gelingen kann"] wird benannt, dass umweltfreundlich/nachhaltig agierende Unternehmen drei Kriterien erfüllen müssen: Sie müssen 1. effizient, 2. suffizient und 3. konstistent/widerspruchsfrei sein. Dabei geht es nicht um Perfektion aber darum, in allen drei Bereichen so gut wie möglich zu werden.
Bei Wirtschaftsunternehmen heißt effizient, dass mit eingesetzten Ressourcen nach dem ökonomischen Prinzip umgegangen wird. Bei Genossenschaften als bedarfsdeckenden Unternehmen bedeutet das die Erfüllung von Grundbedarfen nach dem Minimalkostenprinzip/Haushaltsprinzip anzustreben. So wird der Ressourceneinsatz minimiert und die Ersparnisse für privaten Haushalte maximiert. Dabei sind die Mitglieder der Genossenschaft Mitunternehmer, Teilhaber, Nutzer und Kapitalgeber und decken ihre Grundbedarfe in einem bestimmten Produktbereich durch die selbstorganisierte und selbstverwaltete Organisation eines Geschäftsbetriebes.
Im Deutschen Genossenschaftsgesetz kommt dies unter anderem dadurch zu Geltung, dass §19 regelt, dass alle Überschüsse am Ende einer Rechnungsperiode, die jährlich ist" an die Mitglieder auszuschütten bzw. defakto zurückzuzahlen ist (mit der Einschränkung, dass die Satzung etwas anderes regeln kann). Dafür eignet sich inbesondere die Form der genossenschaftlichen Rückvergütung. Im Französischen Genossenschaftsgesetz ist es genau umgekehrt. Hier gilt der Grundsatz, dass etwaige Überschüsse im Unternehmen als Rücklagen verbleiben sollen mit der Möglichkeit in der Satzung etwas anders zu regeln [eine ausführlichere Darstellung der französischen Ideen und gesetzlichen Regelungen zu Genossenschaften findet sich bei Beuthien Volker, Klappstein, Verena "Sind genossenschaftliche Rücklagen ein unteilbarer Fonds?", S. 77-79]. In Frankreich wird also angenommen, dass mehr Rücklagen mehr Unternehmensaktivität in der Zukunft erlaubt und das vorzuziehen ist. Das ist ein expansiver und letztlich sogar unendlich expansiver Ansatz. Er ist damit grundsätzlich auf eine unendlich hohen Ressourcenverbrauch angelegt und widerspricht dem Minimalkostenprinzip. Diese expansive Ausrichtung ist zur Deckung von Grundbedarfen wenig sinnvoll. Wie schon Goethe sagte in Hermann und Dorothea "Vieles wünscht sich der Mensch, und doch bedarf er nur wenig" siehe auch mein Artikel zu Brodbeck und Marshall. Der Deutsche Ansatz nimmt von Mitgliedern so wenig wie möglich und so viel wie nötig und maximiert das Ihnen verbleibende Haushaltseinkommen und überlässt es ihnen, was sie damit machen wollen. Sie können es immer noch für wohltätige Zwecke spenden wenn Ihnen ihre Genossenschaft zu mitgliederorientiert handelt, sie können es ansparen oder für Dinge ausgeben, wo sie einen anderen Grundbedarf haben oder um sich Wünsche zu erfüllen, die weiter oben in ihrer individuellen Zielhierarchie angesiedelt sind, siehe Maslowsche Bedürfnisshierachie (Ausdruck ist ungenau, da hier Wünsche als Bedürfnisse bezeichnet werden).
Da Genossenschaften für Privathaushalte von ihrer Grundstruktur her bedarfswirtschaftlich sind, sind sie tatsächlich eine Form von Subsistenzwirtschaft im Sinne des oben verlinkten Wikepiedia-Artikels.
Was ich hier in meinem Blog zu leisten versuche und was die genossenschaftliche Betriebswirtschaftslehre und die bedarfswirtschaftliche Säule innerhalb der allgemeinen Betriebswirtschaftslehre leisten können, ist Effizienz und Sufizienz widerspruchsfrei zusammen zu bringen bzw. die Widersprüche so klein wie möglich zu bekommen, ohne die Handlungsfreiheit in der Praxis über Gebühr zu beschränken, eben Theorie und Praxis als Teil eines Ganzen zu sehen und fortzuentwickeln bzw. sie weiter zu entfalten zum dem, was in der Genossenschaftsidee und dem Ansatz von öffentlichen Unternehmen und Stiftungsunternehmen angelegt ist.
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