Sonntag, 21. Februar 2021

Mehr zu Marshall

Ich hatte gestern auf Alfred Marshalls "Principles of Economics" Bezug genommen und einen Fallstrick der Wirtschaftswissenschaften abgeleitet, der sich aus einer Idee der Nutzenmessung ergibt, die bei ihm zu finden ist. Vorgestern hatte ich erwähnt, dass ein Problem der Wirtschaftswissenschaften in ihrem Antropozentrismus liegt und diese damit im Gegensatz zu einer ganzheitlichen Weisheit steht, wie sie sich zum Beispiel in der Rede des Häuptings Seattle findet. Ich will dies hier an Hand von Marshalls Buch belegen. Das Buch ist wichtig, da es Generationen von Ökonomen beeinflusst hat, siehe hier und hier

Auf Seite 20 (8. Auflage published 1997) schreibt Marshall:"By far the greater number of the events with which economics deals affect in about equal proportions all the different classes of society; so that if the money meassures of the happiness caused by two events are equal, it is reasonable and in accordance with common usage to regard the amounts of happiness in the two classes as equivalent. And further, as money is likely to be turned to the higher uses of life in about equal proportions, by any two large groups of people taken without special bias from any two parts of the western world, there is even some prima facie probability that equal additions to their material resources will make about equal additions to the fulness of life, and the true progress of the human race."

Marshall setzt damit den Schwerpunkt für die Wirtschaftswissenschaft dahingehend, dass Nutzen oder Bedürfniserfüllung über Geld gemessen werden kann, dass wenn zwei "Ereignisse" gleich viel kosten sie im großen und ganzen gleich viel Glück bringen. Das heist natürlich wenn eines mehr Geld wert ist, es mehr Glück bringt. Wie absurd bzw. gefährlich das ist zeigt in Anlehnung an mein Beispiel von gestern, dass uns Menschen in der Regel der Kontakt mit anderen nahestehenden Menschen und auch mit der Natur glücklich macht völlig unabhängig davon, ob diese Menschen und die Natur ökonomisch produktiv sind oder nicht. Spannend bei Marshall ist, dass er Bezug nimmt zu "the western world" und "the true progress of the human race". Damit wird klar, dass es sich um die westliche Weltsicht handelt, in der er sich bewegt und dass der Fortschritt der menschlichen Rasse für ihn selbständlich der alles tragende, motiverende Wert ist, von dem er sicher ausgeht, dass er in der westlichen Welt Konsens ist und er darüber mit dem Leser Konsens hat. Heute ist eigentlich klar, dass wir uns nicht nur als Menschen verstehen (müssen), sondern als Teil eines planetaren Gemeinschaft mit der belebten und unbelebten Natur. Wahrscheinlich muss man Marshall zugute halten, dass ja nur über Gruppen von Menschen spricht und dass er anerkennt, dass es "higher uses of life" gibt und diese als in Gruppen der westlichen Welt als gleichverteilt ansieht und damit annimmt, dass sie im konkreten Fall jeweils zu gleichen Anteilen berücksichtigt wurden. Außerdem spricht er nur von Wahrscheinlichkeiten (probablilities) und nicht von Tatsachen. Wie daneben man mit solchen Aussagen liegen kann ist leider zu sehen wenn man sieht, dass der Holocaust mit Deutschland von einem Land "of the western world" ausging aber nicht von Großbritannien und auch nicht von anderen damals faschistisch regierten Ländern wie Italien. Da hatte sich in einer Gesellschaft plötzlich die Einschätzung durchgesetzt dass es zu einer additions of the happiness of life führen würde, über 6 Millionen Menschen zu ermorden. Erleichert wurde dieses Zivilisationsversagen dadurch, dass das Nazi-Regime Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Geistig Behinderten Menschen das Menschsein absprach oder sie als lebensunwert klassifizierten. Marshall könnte jetzt entgegnen, dass zum Zeitpunkt der Machtergreifung Hitlers es eben einen deutlichen "bias" gegeben hätte zwischen der deutschen und englischen Gesellschaft und es ihm ja auch um ökonomische Sachverhalte gehen würde und nicht um das Recht auf Leben, aber so klar sind da die Grenzen nicht, zum Beispiel auch heute im Bereich der Massentierhaltung in der Landwirtschaft und der Ausbreitung "of the western world" zulasten anderer menschlicher Kulturräume und von Wildtieren,  Wildpflanzen und einem stabilen Klima und einer stabilen Gesamtökologie einschließlich der Ozeane.

Meine These bleibt also bestehen, dass die Wirtschaftswissenschaft zwischen Bedürfnis und in Geld ausdrückbaren Wunscherfüllungen unterscheiden muss in Anlehnung an Goethe.

Zuletzt kann man Marshall noch zugute halten, dass er seine Aussage prima facie macht, d.h. sie nur auf Widerruf gilt solange sich keine gegenteiligen Evidenzen einstellen. Dass wir mittlere Weile mehr Ressourcen verbrauchen als wir haben, es ein großes Artensterben gibt, eine Klimakastrophe droht und ein Ökozid, ist dann wohl so eine Evidenz.


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