Mittwoch, 17. Februar 2021

Opportunismus in der Wirtschaftswissenschaft und darüber hinaus

Opportunismus wird in der neuen Institutionenökonomik im Zusammenhang mit dem Prinzipal-Agenten-Dilemma zurecht kritisch betrachtet, da die Zielerreichung in einem Unternehmen darunter leidet, wenn der Agent (der angestellte Vorstand) die Gelegenheit nutzt, eigene Ziele wie die Erhöhung des eigenen gesellschaftlichen Prestiges oder seines Einkommens höher zu gewichten, als es ihnen zukäme, wenn sie sich auf die Erreichung der Unternehmensziele fokussieren würde. siehe Wikipedia 

Opportunismus ist eine für Menschen typische Eigenschaft, die wahrscheinlich nur über eine hohe innere Haltung oder über soziale Kontrolle einhegbar ist. Die Fähigkeit, Gelegenheiten zu erkennen und wahrzunehmen, ist aber nicht nur negativ, sondern auch der Kern erfolgreichen Unternehmertums und Investierens. Fehlt aber der Blick und das Interesse für das größere Ganze und gibt es nur eine geringe Bereitschaft, sich in den größeren Zusammenhang zu integrieren, wird es voraussichtlich zu Fehlentwicklungen kommen. Dies gilt sowohl in Unternehmen, in politischen Gemeinwesen als auch für die Menschheit als Ganzes: Die Ressourcen dieses Planeten werden von uns über Gebühr beansprucht zu Lasten von Wildtieren, Wildpflanzen, der Artenvielfalt, des Klimas mit der Gefahr großer ökologischer Ungleichgewichte wie zum Beispiel dem Klimanotstand siehe Earth Overshoot Day laut Umweltbundesamt und sogar eines Ökozids.

Auch in der Wirtschaftswissenschaft lässt sich ein opportunistischer Ansatz erkennen: Alfred Marshall beschrieb 1890 in "Principles of Economics" ausführlich inwieweit Angebot und Nachfrage auf freien Märkten zueinander finden und dabei für ein Gut ein Wert ermittelt wird. Nach und nach erkannten Ökonomen, dass dies kein objektiver Wert ist, sondern ein Ausdruck der Präferenzordnungen von Käufer und Verkäufer. Die Käuferin entscheidet sich dafür, dass in diesem Moment sie das Gut dem Geldbetrag, den sie dafür hergibt, vorzieht und der Verkäufer entscheidet sich dafür, dass er den Geldbetrag, den die Käuferin ihm zu zahlen bereit ist, in diesem Augenblick der Möglichkeit vorzieht das Gut zu behalten mit der Möglichkeit, es selbst zu nutzen oder später einem anderen Kaufinteressenten für mehr Geld zu verkaufen. Auch Käufer werden in der Regel ein Bewusstsein dafür haben, welche Möglichkeiten es noch gibt, mit ihrem Geld ähnliche oder andere Güter zu kaufen. Den Versuch einen objektiven Nutzen "auszurechnen", gab die Wirtschaftswissenschaft auf. Zitat: "Unter dem Einfluss der positivistischen Wissenschaftstheorie wurde die Vorstellung von Nutzen als einer zahlenmäßig (kardinal) messbaren und für verschiedene Personen (interpersonal) vergleichbaren Größe nicht akzeptiert. An die Stelle addierbarer, kardinaler Nutzengrößen treten nun ordinale Bewertungen in Form von Präferenzen (x ist besser / gleich gut / schlechter als y / nicht entscheidbar). Daraus lassen sich in der Regel Rangordnungen (Präferenzordnungen) bilden." siehe Wikipedia

kleiner Exkurs

Das Thema Opportunismus ist vielschichtig. Wer erinnert sich nicht mit Bedauern an Gelegenheiten die sie verpasst hat zu ergreifen? Vielleicht einen bestimmten Menschen nicht angesprochen zu haben oder eine bestimmte Investition nicht getätigt zu haben. Und doch gibt es immer wieder neue Möglichkeiten. Von Franz Kafka stammt folgendes Zitat: " Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie." Wo lassen wir Möglichkeiten verstreichen? Wäre es nicht viel ökonomischer im Sinne von nützlicher, sich mit dieser Quelle bzw. dieser tieferen Wirklichkeit zu verbinden? Warum sind wir da nicht opportunistischer? Was verstellt einem den Blick auf diese Möglichkeit? Insoweit können opportunistisch handelnde Menschen in unserem Umfeld eine Inspiration sein, zu schauen wo man  Möglichkeiten bei wirklich schönen Dingen auslässt und sie können einem Kraft geben das beim nächsten Mal besser zu machen, besser wahrzunehmen was ist und was an Potential in einem Moment und in einer Situation angelegt ist und dann das einfach zu machen. Opportunismus kann insoweit Entdeckerfreude wecken und einem helfen zur Tat zu finden.

Zurück zur Wirtschaftswissenschaft. 

Ein Beispiel aus der wirtschaftlichen Praxis für Opportunismus ist, wenn Wohnungsgenossenschaften das Selbstkostenprinzip aus den Augen verlieren und statt dessen ihre Preispolitik an den Durchschnittspreisen des Marktes orientieren und dieses dann "Wohnwertmiete" nennen. Ich habe dazu sehr ausführlich hier geschrieben. Auch hier zeigt sich noch der Glaube an eine Objektivierbarkeit eines Wertes, der seitens der Wirtschftswissenschaft bereits verworfen wurde und man bedient sich des Marktes als Ersatz, um sich selbst die "Mühe" des Denkens zu sparen, obwohl eigentlich alle Prinzipien klar sind und in Teilen der Praxis auch angewendet werden wie zum Beispiel in der Schweiz. Auch wenn die genossenschaftliche Betriebswirtschaftslehre mit diesem Opportunismus normativ aufräumen kann, ist die Wirtschaftswissenschaft möglicherweise auch selbst nicht frei von Opportunismus: Sie will gerne Sachverhalte quantifizieren und orientiert sich deshalb gerne an empirisch messbaren Marktpreisen. Sie postuliert, dass in einer liberalen Wirtschaftsordnung eine optimale Allokation der Ressourcen über die Preisentdeckungsfunktion des Marktes mittels Ausgleich von Angebot und Nachfrage erfolgt. Sie gibt zwar zu, dass es freie Güter gibt, bei denen der Markt Schwierigkeiten hat, einen angemessenen Preis zu finden, zum Beispiel für die Möglichkeit Co2 oder Methan in die Atmosphäre zu entsorgen. Und sie akzeptiert, dass hier der Staat lenkend eingreift, zum Beispiel über Steuern und Verordnungen. Sie macht dabei aber keinen grundsätzlichen Unterschied, ob Menschen Grundbedürfnisse erfüllen oder sich Wünsche mittels monetarisierbarer Güter erfüllen. Ist das relevant? Ich denke ja, falls dies Auswirkungen hat auf  Verteilung von endlichen Ressourcen auf einem endlichen Planeten. Wenn Geldmittel ungleich verteilt sind, ist davon auszugehen, dass Menschen, die sehr viel Geld in Form von Einkommen und/oder Vermögen zur Verfügung haben, bereit sind das auszugeben, um ihre Wünsche zu erfüllen. Sie reagieren weniger oder gar nicht auf Preissteigerungen (mikroökonomisch spricht man von geringer Preiselastitizität der Nachfrage). Werden dafür die gleichen Ressourcen verwendet, wie für die Güter, mit denen Grundbedürfnisse erfüllt werden von anderen Menschen oder anderen Lebewesen, steigen auf freien Märkten die Preise für die, die Grundbedürfnisse erfüllen wollen. Am krassesten ist wahrscheinlich die Einsicht, dass Wildtiere und Wildpflanzen gar keine Geldmittel zur Verfügung zu haben um die "Güter" zu bezahlen, die sie benötigen, um leben zu können. Letztlich entstand die Wirtschaftswissenschaft zu einer Zeit, als eine antropozentrische Sichtweise im Westen selbstverständlich war. Alternative Sichtweisen wie die des Indianerhäuptlings Seattle, siehe Rede von 1855 hatten keine Macht. Stimmt es, dass es viel weniger Grundbedürfnisse gibt als Wünsche insgesamt? Goethe lässt in "Hermann und Dorothea" den Pfarrer im 5. Gesang sagen: "Vieles wünscht sich der Mensch, und doch bedarf er nur wenig." Bei Abraham Maslow taucht in seiner Bedürfnispyramide das Wort "Wunsch" auf der zweithöchsten Ebene "Individualziele" auf. Darüber geht es dann um Selbstverwirklichung. Wenn ich mich ausdrücke und damit selbstverwirkliche indem ich mir als Ausdruck meiner Individualität als Zweitwagen einen sprittfressenden Humvee oder einen Oberklasse-SUV kaufe, weil es cool ist, damit meinen Sohn vor seiner Schule abzusetzen oder einmal in die nächste Kleinstadt zu fahren, um Brötchen zu kaufen statt mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, ist das menschlich für viele nachvollziehbar. Aber so werden die Straßen voller, es wird mehr Benzin nachgefragt und es werden viele Ressourcen beansprucht. 

Die Wirtschaftswissenschaft sollte also schauen, zu welchen Aussagen sie findet, wenn sie zwischen wenigen Grundbedürfnissen und endlosen Wünschen unterscheidet, sowohl in der Mikroökonomie als auch in der Betriebswirtschaft. 

In der Betriebswirtschaft ist dies relativ leicht, da es dort bereits Unternehmensformen gibt, die auf Bedarfsdeckungswirtschaft im Gegensatz zu Erwerbs(Gewinnmaximierungs)wirtschaft ausgelegt sind: Genossenschaften, deren Nutzer Privathaushalte sind und öffentliche Unternehmen, die ebenfalls Grundbedarfe der Menschen decken wollen. Dass die Praxis in diesen Unternehmen dabei oft den normativen Aussagen hinterherhinkt, ist ein Kapitel für sich. Außerdem gibt es noch andere Unternehmensformen wie gemeinnützige GmbHs, Stiftungen und opensource-Projekte und es wäre eine spannende Frage zu schauen, ob auch eine "bedarfsorientierte" oder "nachhaltige" Aktiengesellschaft eine weitere Möglichkeit darstellt. Im Bereich Mikroökonomie ist eine spannende Frage, inwieweit Aussagen verbessert werden können bzw. neu formuliert werden können, die zwischen wenigen Bedürfnissen und endlosen Wünschen unterscheiden und insoweit mit diesem historisch verständlichen aber unbefriedigenden und nicht nachhaltigen Opportunismus aufräumen. 

Lets build a new world. :)

PS: eine neue Welt sollte Bewährtes nicht aufgeben, dazu gehören nach meiner Einschätzung Errungenschaften wie die Gewerbefreiheit, die Freiheit die Unternehmensform zu wählen, Tariffreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Trennung von Staat und Religion, freie gleiche geheime Wahlen, die parlamentarische Demokratie, die Republik als Staatsform, der Föderalismus, die Idee der Souveränität der Staatsvölker als Demos und die Idee des aktiven Staatsbürgers, des Citoyen.

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