Sonntag, 21. Februar 2021

Mehr zu Marshall II - inklusive einer Rezeption bei Karl-Heinz Brodbeck

jetzt wird es spannend .... ich zitiere einfach mal :) Mashall S. 86, Chapter II wants in relation to activities:

"§1 Human wants and desires are countless in number and very various in kind: but they are generally limited and capable of being satisfied. The uncivilized man indeed has not many more than the brute animal; but every step in his progress upwards increases the variety of his needs together with the variety in his methods of satisfying them. He desires not mere larger quantities of the things he has been accustomed to consume, but better qualitities of those things, and the things that will satisfy new wants growing up in him."

Ich hatte gestern schon geschrieben, dass ich die Idee von Besanko/Braeutigam mit ihrem Beispiel holprig fand zu glauben, es gäbe Leute, die Kleidung durch Lebensmittel ersetzen würden oder umgekehrt. Letztlich ist das absurd. Vielleicht sagt es mehr über die Autoren aus als ihnen klar ist. Die Wirtschaftswissenschaft kommt aus eine Zeit als Mangel bei grundlegenden Dingen wie Kleidung und Nahrungsmittel entweder noch real war oder zumindest im kollektiven Bewusstsein noch präsent war. Heute haben in der westlichen Welt mehr Menschen ein Problem damit, dass sie zu viel essen und dass sie Kleidung aussortieren müssen als damit, neue kaufen zu müssen. Dass Fettleibigkeit in vielen Ländern der Welt sehr verbreitet ist, zeigt ein Artikel bei Spiegel online.

Offenkundig steht Marshall mit obiger Aussage im Gegensatz zu dem in Hexametern geschriebenen idyllischen Epos "Hermann und Dorothea" von Goethe "Vieles wünscht sich der Mensch, doch bedarf er nur wenig;". Der ganze Abschnitt bei Goethe (siehe unten) ist ein Plädoyer für die Beständigkeit im Gegensatz zum Fortschritt. Marshalls Einseitigkeit wird deutlich, wenn man sich einen meditierenden Buddha oder einen wandernden Jesus vorstellt und sieht, dass Mashall sie als "uncivilized" und "not many more than brute animals" bezeichnen müsste, um sich nicht zu widerprechen. Einfache Mahlzeiten sind oft die besten, noch dazu, wenn wir sie mit Menschen teilen, deren Anwesenheit uns freut.

Marshall unterscheidet also nicht zwischen Bedürnissen und Wünschen, sondern, glaubt sie seien letztlich unzählbar viel, und es würden durch die Zivilisation immer neue dazukommen also insgesamt immer mehr werden.

Karl-Heinz Brodbeck setzt sich zwar mit Marshall auseinander in seinem Werk "Die Herrschaft des Geldes",2. Auflage, 2012, in dem Kapitel "Die Ordnung der Bedürfnisse", S. 852f. und rezipiert  weitere interessante Aspekte, wie sie verschiedene Wirtschaftswissenschaftler analysiert haben, aber die Beobachtung Goethes, dass es einen kategorialen Unterschied zwischen Bedürnissen und Wünschen gibt und dass dies wichtig ist in einer Welt mit begrenzten Ressourcen, weil es von dem einen nur wenige, von dem anderen aber zahllose gibt, entgeht auch ihm.

Meine These bleibt also bestehen, dass die Wirtschaftswissenschaft zwischen Bedürfnis und in Geld ausdrückbaren Wunscherfüllungen unterscheiden muss in Anlehnung an Goethe. Es geht also nicht darum, das eine über das andere zu stellen weder in die eine noch in die andere Richtung. Beides gelten zu lassen und beidem den richtigen Platz zuzuweisen, sowohl im eigenen Leben als auch in Gesellschaften als auch insgsamt auf diesem Planeten ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Diese werden wir wohl nur lösen, wenn uns die Zusammenhänge bewusst sind und auch die Wirtschaftswissenschaft sie in ihren Aussagen berücksichtigt.

ganzes Zitat bei Goethe: fett einige "bedarfswirtschaftliche" Passagen

Aber der treffliche Pfarrer versetzte, würdig gesinnt, drauf:
Widersprechen will ich Euch nicht. Ich weiß es, der Mensch soll
Immer streben zum Bessern; und, wie wir sehen, er strebt auch
Immer dem Höheren nach, zum wenigsten sucht er das Neue.
Aber geht nicht zu weit! Denn neben diesen Gefühlen
Gab die Natur uns auch die Lust, zu verharren im Alten
Und sich dessen zu freun, was jeder lange gewohnt ist.
Aller Zustand ist gut, der natürlich ist und vernünftig.
Vieles wünscht sich der Mensch, und doch bedarf er nur wenig;
Denn die Tage sind kurz, und beschränkt der Sterblichen Schicksal.
Niemals tadl' ich den Mann, der immer, thätig und rastlos
Umgetrieben, das Meer und alle Straßen der Erde
Kühn und emsig befährt und sich des Gewinnes erfreuet,
Welcher sich reichlich um ihn und um die Seinen herum häuft,
Aber jener ist auch mir werth, der ruhige Bürger,
Der sein väterlich Erbe mit stillen Schritten umgehet
Und die Erde besorgt, so wie es die Stunden gebieten.
Nicht verändert sich ihm in jedem Jahre der Boden,
Nicht streckt eilig der Baum, der neugepflanzte, die Arme
Gegen den Himmel aus, mit reichlichen Blüthen gezieret.
Nein, der Mann bedarf der Geduld; er bedarf auch des reinen,
Immer gleichen, ruhigen Sinns und des graden Verstandes.
Denn nur wenige Samen vertraut er der nährenden Erde,
Wenige Thiere nur versteht er, mehrend, zu ziehen,
Denn das Nützliche bleibt allein sein ganzer Gedanke.
Glücklich, wem die Natur ein so gestimmtes Gemüth gab!
Er ernähret uns alle. Und Heil dem Bürger des kleinen
Städtchens, welcher ländlich Gewerb mit Bürgergewerb paart!
Auf ihm liegt nicht der Druck, der ängstlich den Landmann beschränket;
Ihn verwirrt nicht die Sorge der viel begehrenden Städter,
Die dem Reicheren stets und dem Höheren, wenig vermögend,
Nachzustreben gewohnt sind, besonders die Weiber und Mädchen.
Segnet immer darum des Sohnes ruhig Bemühen
Und die Gattin, die einst er, die gleichgesinnte, sich wählet.

Quelle hier und auf Englisch S.36/37 als pdf hier 

und dazu im Gegensatz ein Gedicht von Wilhelm Busch über die Zahllosigkeit der Wünsche mit Dank an Inge Henschel für den Tipp:

 Niemals

 Wonach du sehnlich ausgeschaut,
es wurde dir beschieden.
Du triumphierst und jubelst laut:
"Jetzt hab' ich endlich Frieden!"
 
Ach, Freundchen, rede nicht so wild.
Bezähme deine Zunge.
Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt,
Kriegt augenblicklich Junge.
 

 

Mehr zu Marshall

Ich hatte gestern auf Alfred Marshalls "Principles of Economics" Bezug genommen und einen Fallstrick der Wirtschaftswissenschaften abgeleitet, der sich aus einer Idee der Nutzenmessung ergibt, die bei ihm zu finden ist. Vorgestern hatte ich erwähnt, dass ein Problem der Wirtschaftswissenschaften in ihrem Antropozentrismus liegt und diese damit im Gegensatz zu einer ganzheitlichen Weisheit steht, wie sie sich zum Beispiel in der Rede des Häuptings Seattle findet. Ich will dies hier an Hand von Marshalls Buch belegen. Das Buch ist wichtig, da es Generationen von Ökonomen beeinflusst hat, siehe hier und hier

Auf Seite 20 (8. Auflage published 1997) schreibt Marshall:"By far the greater number of the events with which economics deals affect in about equal proportions all the different classes of society; so that if the money meassures of the happiness caused by two events are equal, it is reasonable and in accordance with common usage to regard the amounts of happiness in the two classes as equivalent. And further, as money is likely to be turned to the higher uses of life in about equal proportions, by any two large groups of people taken without special bias from any two parts of the western world, there is even some prima facie probability that equal additions to their material resources will make about equal additions to the fulness of life, and the true progress of the human race."

Marshall setzt damit den Schwerpunkt für die Wirtschaftswissenschaft dahingehend, dass Nutzen oder Bedürfniserfüllung über Geld gemessen werden kann, dass wenn zwei "Ereignisse" gleich viel kosten sie im großen und ganzen gleich viel Glück bringen. Das heist natürlich wenn eines mehr Geld wert ist, es mehr Glück bringt. Wie absurd bzw. gefährlich das ist zeigt in Anlehnung an mein Beispiel von gestern, dass uns Menschen in der Regel der Kontakt mit anderen nahestehenden Menschen und auch mit der Natur glücklich macht völlig unabhängig davon, ob diese Menschen und die Natur ökonomisch produktiv sind oder nicht. Spannend bei Marshall ist, dass er Bezug nimmt zu "the western world" und "the true progress of the human race". Damit wird klar, dass es sich um die westliche Weltsicht handelt, in der er sich bewegt und dass der Fortschritt der menschlichen Rasse für ihn selbständlich der alles tragende, motiverende Wert ist, von dem er sicher ausgeht, dass er in der westlichen Welt Konsens ist und er darüber mit dem Leser Konsens hat. Heute ist eigentlich klar, dass wir uns nicht nur als Menschen verstehen (müssen), sondern als Teil eines planetaren Gemeinschaft mit der belebten und unbelebten Natur. Wahrscheinlich muss man Marshall zugute halten, dass ja nur über Gruppen von Menschen spricht und dass er anerkennt, dass es "higher uses of life" gibt und diese als in Gruppen der westlichen Welt als gleichverteilt ansieht und damit annimmt, dass sie im konkreten Fall jeweils zu gleichen Anteilen berücksichtigt wurden. Außerdem spricht er nur von Wahrscheinlichkeiten (probablilities) und nicht von Tatsachen. Wie daneben man mit solchen Aussagen liegen kann ist leider zu sehen wenn man sieht, dass der Holocaust mit Deutschland von einem Land "of the western world" ausging aber nicht von Großbritannien und auch nicht von anderen damals faschistisch regierten Ländern wie Italien. Da hatte sich in einer Gesellschaft plötzlich die Einschätzung durchgesetzt dass es zu einer additions of the happiness of life führen würde, über 6 Millionen Menschen zu ermorden. Erleichert wurde dieses Zivilisationsversagen dadurch, dass das Nazi-Regime Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Geistig Behinderten Menschen das Menschsein absprach oder sie als lebensunwert klassifizierten. Marshall könnte jetzt entgegnen, dass zum Zeitpunkt der Machtergreifung Hitlers es eben einen deutlichen "bias" gegeben hätte zwischen der deutschen und englischen Gesellschaft und es ihm ja auch um ökonomische Sachverhalte gehen würde und nicht um das Recht auf Leben, aber so klar sind da die Grenzen nicht, zum Beispiel auch heute im Bereich der Massentierhaltung in der Landwirtschaft und der Ausbreitung "of the western world" zulasten anderer menschlicher Kulturräume und von Wildtieren,  Wildpflanzen und einem stabilen Klima und einer stabilen Gesamtökologie einschließlich der Ozeane.

Meine These bleibt also bestehen, dass die Wirtschaftswissenschaft zwischen Bedürfnis und in Geld ausdrückbaren Wunscherfüllungen unterscheiden muss in Anlehnung an Goethe.

Zuletzt kann man Marshall noch zugute halten, dass er seine Aussage prima facie macht, d.h. sie nur auf Widerruf gilt solange sich keine gegenteiligen Evidenzen einstellen. Dass wir mittlere Weile mehr Ressourcen verbrauchen als wir haben, es ein großes Artensterben gibt, eine Klimakastrophe droht und ein Ökozid, ist dann wohl so eine Evidenz.