Mittwoch, 20. Oktober 2021

sinnvolle Erweiterung der allgemeinen Betriebswirtschaftslehre, zur Habilitationsschrift von Michaela Haase - Institutionenökonomische Betriebswirtschaftstheorie

Zur Frage einer zweiten bedarfswirtschaftlich-nutzenmaximierenden Säule in der ABWL ergänzend zu einer erwerbswirtschaftlich-gewinnmaximierenden war es für mich inspirierend, in die Habilitationsschrift von Michaela Haase "Institutionenökonomische Betriebswirtschaftstheorie: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre auf sozial- und institutionentheoretischer Grundlage" zu sehen [Gabler Verlag, 2000]:

Haase schildert im Kapitel 2  "Ausgangssituation" eine Krise in der ABWL unter anderem dahingehend, dass in der Lehre und Forschung Spezialisierungen nach Branchen und betrieblichen Funktionen dominieren, aber auch hinsichtlich der Frage, ob sie Teil der Wirtschaftswissenschaft sei oder  Teil einer Verhaltenswissenschaft, welche selbst wieder in ihrer Ausrichtung umstritten sei.

Sieht man die ABWL als Teil der Wirtschaftswissenschaft an, die Theoriebildung betreibt, um der Praxis relevante normative Aussagen zur Verfügung stellen zu können, kann man fragen, zu welchen Aussagen die ABWL seit und mit Erich Gutenberg gefunden hat und ob diese den Aufwand lohnen, wozu diese dienen können als allgemeiner Orientierungsrahmen und/oder weitergehend, ob sie immer noch eine gewisse Originalität haben. Eine Aussage bei Gutenberg war zum Beispiel, dass, wenn in einer Marktwirtschaft Produktionsfaktoren relativ breit verfügbar sind, und es viele potentielle Konkurrenten gibt, der Engpass zur Gewinnerzielung weniger in der Leistungserstellung als beim Absatz der Leistung an die Kunden liegt und dass deshalb das Produktionsprogramm dem Absatzplan folgen sollte und nicht umgekehrt. Dies gilt aber nur insoweit die Produkte verschiedener Unternehmen sich nur wenig unterscheiden und auch durch eine weitere Entwicklung wenig unterscheidbar gemacht werden können. Aktuell gibt es sicher wieder sehr viele Chancen, Produkte dadurch unterscheidbar zu machen, dass sie klimaneutral hergestellt werden und sichergestellt wird, dass in Vorstufen der Herstellung ebenfalls Klimaneutralität, sorgsamer Umgang mit Ressourcen, hohe Umweltschutzstandards aber auch gute Arbeitsbedingungen erfüllt werden. Bei der bei Haase diskutierten Spannung zwischen einer relativ aussagearmen ABWLund deren Verdrängung durch funktionale und sektorale BWLs fehlt erstaunlicherweise die Beobachtung, dass es unternehmensmorphologische unterschiedliche Verhältnisse in der BWL gibt, nämlich ob eben Unternehmen hauptsächlich auf Gewinnerzielung und Rendite ausgerichtet sind wie normale GmbHs und Aktiengesellschaften oder einen eher gemeinnützigen Charakter haben wie öffentliche Unternehmen, Stiftungsunternehmen, Unternehmen sozialer Träger wie zum Beispiel von Kirchen oder auch Genossenschaften als Selbsthilfevereine. Dass dies in der Diskussion in obigem Buch nicht vorkommt, könnte darauf hindeuten, dass die mögliche Stärkung der ABWL durch ein Zwei-Säulen-Modell hier auch in Bezug auf inhaltliche Aussagen wieder mehr Gewicht verleiht, weil sowohl die Gewinnmaximierung als auch die Nutzenmaximierung aus Nutzersicht zwei gleichberechtigte Zielgrößen darstellen, an der sich dann weitere normative Aussagen der ABWL orientieren können. 






Sonntag, 15. August 2021

Meine Auseinandersetzung mit dem Buch "Auf dem Weg zu einer Green Economy"

Zunächst hatte ich das Buch "Auf dem Weg zu einer Green Economy - Wie die sozialökologische Transformation gelingen kann" von Walter Kahlenborn, Jens Clausen, Siegfried Behrendt, Edgar Göll (Hg.) mit großen Interesse gelesen. Besonders gefiel mir die Entdeckung, dass es drei Grundprinzipien gibt, die die Basis bilden können, um Wirtschaft und Ökologie zu integrieren: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz, siehe mein Blog-Artikel hier. Vielen Dank auch an die Autoren, dass sie das Buch kostenlos online verfügbar gemacht haben.

Ich wunderte mich allerdings, dass ich darin nichts dazu fand, dass Genossenschaften Nachhaltigkeit leichter fällt als Aktiengesellschaften, da ihnen der Druck zu Rendite und Gewinnmaximierung fehlt. Ihr Zweck ist ja die Förderung der Wirtschaft ihrer Mitglieder durch das Angebot von Produkten und Dienstleistungen.

Das Buch will Antworten geben, wie eine gute Umweltpolitik aussieht, die zu einer Transformation der Wirtschaft in die Nachhaltigkeit führt. Da erscheint es mir naiv und unwissenschaftlich, gar nicht auf des Grund-Paradigma der Gewinnmaximierung der Betriebswirtschaftslehre und der Wirtschaftswissenschaft insgesamt einzugehen. Eigentlich müsste man darlegen, inwieweit es zu ändern ist. Oder man hofft, dass die Unternehmen schon mitspielen im Rahmen von Prinzipien guter Unternehmensführung und ansonsten über harte Regulierung dazu gezwungen werden. Hier wäre das Buch dann aber widersprüchlich, da es viel davon handelt, wie Transformationen ganzheitlich angestossen werden können. Die Forschung, die hierzu dargelegt wird, ist sehr interessant und die Erfolgsfaktoren für funktionierende Veränderungsprozesse ebenso, aber das derzeit in der Betriebswirtschaftslehre und in Bezug auf "normale" Unternehmen in der Mikroökonomie  dominierende Gewinnmaximierunspostulat (Ausnahmen können müssen aber nicht sein Genossenschaften, Stiftungsunternehmen, kirchliche oä Unternehmen und öffentliche Unternehmen) wird nur als ein Faktor unter vielen erwähnt im Gegensatz zur Ökonomie, wo es als das einzige gängige Ziel zugrunde gelegt wird.

Das Buch erklärt, dass und wie Pfadabhängigkeiten Veränderungen oft sehr erschweren. Es scheint aber  zu ignorieren, dass aktuelle Unternehmen in ihren jeweiligen Unternehmensformen und Zielausrichtungen damit selbst gravierende Pfadabhängigkeiten darstellen.

Es wäre gut, wenn ein Buch über die nachhaltige Transformation der Wirtschaft auch theoretisch zeigen kann, wie zum einen nachhaltigere Unternehmensformen wirtschaftlich erfolgreich und besser in einer neuen ökologischen Welt agieren können und wie eine Transformation von herkömmlichen Unternehmensformen möglich ist. So waren Aktiengesellschaften ursprünglich eine Art wirtschaftlicher Renditeverein und Kapitalsammelstellen. Über Crowdfunding gibt es heute eine andere Möglichkeit,  Kapital für Unternehmen zu sammeln, die Rendite und Nachhaltigkeit ausgewogen berücksichtigen wollen oder noch überzeugender in Form von Genossenschaften gar nicht auf Gewinnmaximierung ausgelegt sind. Dieses Feld genauer zu untersuchen, halte ich für geboten in der derzeitigen Situation und das hätte ich erwartet von einem Buch mit dieser Themensetzung.

Ein Gegenargument zu meiner Kritik könnte sein, dass es ja Aktiengesellschaften gibt, die deutlich auf Nachhaltigkeit setzen wie zum Beispiel Unternehmen, die am The Climate Pledge teilnehmen wie Amazon, die bis 2040  (immer noch deutlich zu spät aber besser als 2050, 2040 enstpricht dem Ziel von Österreich ggü Deutschland und USA mit 2050 und China mit 2060) klimaneutral sein wollen oder Microsoft, die laut eigener Aussage seit 2012 als klimaneutral gelten und es bis 2050 hinbekommen wollen, alle CO2 Emmissionen ihrer Unternehmensgeschichte nachträglich zu kompensieren. Ökonomisch ist das schwer herleitbar und deshalb bleibt unklar, ob bei weniger in der Öffentlichkeit exponierten Unternehmen auf breiter Linie ebenso gehandelt würde. Es kann natürlich immer Unternehmer/innen geben, die ein Unternehmen mit ihren persönlichen Priortäten dominieren, auch Aktiengesellschaften über entsprechende Mehrheitsverhältnisse oder informell, aber dies ist willkürlich. 

Blicke in die Praxis zeigen zum einen, dass viele Unternehmen von sich aus klimaneutral werden wollen wenn auch eine Minderheit. In Deutschland sind es laut bitcom 46%, davon 33% rechtzeitig (bis 2030; genauer 22% dieser 46% bis 2025 und 50% der 46% in 2026-2030). Eine andere Untersuchung zeigt dagegen, dass Mitarbeiter bei klein- und mittelständischen Unternehmen auf dem Land zwar Klimaschutz wichtig finden, in ihren Entscheidungen aber eigene Interessen bei der Wahl eines Arbeitgebers im Zweifel dominieren. Selbst bei jungen Menschen (Auszubildende und Studenten/innen seien es eine Minderheit (37%), denen ökologisches Engagement ihres Arbeitsgebers wichtig oder sehr wichtig sei. Ein Negativ-Beispiel ist die Unternehmensberatung Accenture, 569.000 Mitarbeiter, die zwar viele Worte macht und anscheinend auch Unternehmen zu Nachhaltigkeit beraten will sogar unter der Überschrift "Path to net zero", also der Pfad zu nettonull, aber für sich kein Ziel nennt, bis wann sie Klimaneutralität erreichen will. Dass dies nicht nur der Branche geschuldet ist mit einer hohen Reisefrequenz mit Flügen von Beratern/innen zeigt der Konkurrent Cap Gemini, 270.000 Mitarbeiter, der Klimaneutralität 2030 erreichen will.

Fazit: Insgesamt halte ich das Buch für sehr lesenswert aber in einem zentralen Punkt für unfertig.

 

Samstag, 14. August 2021

Fallstrick gemeinwohlökonomischer Betrachtungen

Ohne hier darauf einzugehen, was unter Gemeinwohlökonomie verstanden werden kann, bekam ich beim Querlesen eines Sammelbandes (1) zum Thema aus den 1970er Jahren eine Idee, welcher Fallstrick bei dem Thema lauert.

Ich vermute viele Autoren und Aktivisten damals und heute (2) hoffen, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu finden oder suchen eine Möglichkeit einen funktionierenden Sozialismus zu finden. Sie suchen Gestaltungsmöglichkeiten und wollen dazu konzeptionelle Grundlagen schaffen.

Das Problem scheint mir zu sein, dass sie dabei übersehen, dass es bereits einen dritten Weg gibt, der funktioniert: bedarfswirtschaftlich ausgerichtete Genossenschaften, die keine Gewinn- und Renditemaximierung betreiben, sondern sich am Nutzen ihrer Abnehmer ausrichten (ausführlich siehe zum Beispiel hier). Ich glaube es ist beim Prüfen von Konzeptionen zur Gemeinwohlökonomie oder Gemeinwirtschaft wichtig zu verstehen, ob die jeweiligen Autoren/innen die Potentialentfaltung einer bestimmten Unternehmensform ermöglichen wollen unter Einhaltung des Prinzips der Gewerbefreiheit oder von außen regeln oder Druck aufbauen und auf Unternehmen Einfluss nehmen wollen. Es steht ja bereits jedem frei gemeinwohlökonomische Unternehmen zu gründen und sich dazu mit anderen zusammen zu schließen oder das eigene Investitions- und Kaufverhalten danach auszurichten. Und auch Staaten und Kommunen können Unternehmen für bestimmte Zwecke gründen und tun dies ja auch insbesondere in Bereichen in denen das Sinn macht weil ein Monopol ökonomisch und gesellschaftlich sinnvoll ist solange es nicht auf der Preisseite die Nutzer ausnutzt (hohe Kosten für Infrastruktur, bei denen mehrere parallele Strukturen unökonomisch wären).

Ein mögliche Kritik an meiner Behauptung mit Genossenschaften gäbe es bereits einen dritten Weg könnte sein, dass dieser offenkundig noch nicht breit genug gegangen wird, um massive gesellschaftliche Auswirkungen zu haben. Ich denke tatsächlich, dass Genossenschaften erst am Anfang ihres Aufstieges als sinnvolle weil nachhaltige und sozial positive Unternehmensform stehen und man auch nicht den Anspruch haben sollte, alles über Unternehmensformen zu lösen. Der Schutz der Umwelt und soziale Ausgewogenheit sollte in einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft über die Parlamente als Gesetzgebungsinstitutionen erfolgen.

(1) "Gemeinwirtschaft" im Wandel der Gesellschaft, Festschrift für Hans Ritschl u.a. mit Beiträgen von Theo Thiemeyer, Burkhardt Röper und Gisbert Rittig

(2) am populärsten Christian FelberGemeinwohl-Ökonomie ab circa 2010

Donnerstag, 10. Juni 2021

Warum die liberale Genossenschaftsidee besser ist als eine vergemeinschaftende/staatliche/sozialistische

In seiner Dissertation über die genossenschaftliche Rückvergütung in Wohnungsunternehmen grenzt Klaus-Peter Hillebrand deutsche Genossenschaften "vom Modell der economie sociale romanischer Provenienz" ab (S. 97 bzw. S. 149). Ein Blick in das französische Wikipedia zeigt, dass es in Frankreich tatsächlich eine weitreichende, wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Ansatz von Sozialunternehmen gab, die sich von der deutschen liberaleren Prägung der Genossenschaftswissenschaft deutlich unterscheidet. Ich möchte hier auf zwei Unterschiede aufmerksam machen zwischen beiden Ansätzen und Aussagen machen, was wir jeweils daraus lernen und nutzbar machen können für die Praxis in Genossenschaften.

1. von Frankreich lernen: sinnvolle Leitprinzipien

Ein Vorteil des französischen Ansatzes liegt darin, dass er klare Prinzipien benennt, die in der Praxis immer wieder als Leitlinien herangezogen werden können. Etwas Ähnliches ist in Deutschland nicht gesetzlich verankert. Ich selbst habe zwar ebenfalls Prinzipien (für Wohnungsgenossenschaften) benannt mit der Hamburger Erklärung; diese haben aber keine Gesetzeskraft erlangt und sind soweit ich weiß auch nicht in einen Corporate Governance Kodex für Genossenschaften eingeflossen (noch nicht;)) und werden auch von der Genossenschaftspraxis bisher wenig diskutiert.

Bei Wikipedia wird für den französischen Ansatz als Prinzip benannt, dass "das Menschliche Vorrang vor dem Kapital haben soll" [la primauté de l’humain sur le capital]. Dass dies in der Praxis in Deutschland mitunter unter die Räder kommt, zeigt das Beispiel einer Wohnungsgenossenschaft, das mir zugetragen wurde. Dort wurde vom Vorstand das Ziel einer Eigenkapitalrendite von 4% vorgegeben auch in Zeiten, als das allgemeine Zinsniveau für Immobilienkredite unter 2% fiel. Hintergrund war, dass in der Satzung eine angemessene Eigenkapitalrentabilität gefordert wurde, etwas was nach meiner Einschätzung in der Satzung einer Genossenschaft mit Privathaushalten als Mitgliedern und Nutzern nichts zu suchen hat. Im konkreten Fall der Genossenschaft bestand bereits über 60% der Bilanzsumme aus Eigenkapital. Da satzungsgemäß nur 4% Dividende auf das Nennkapital, nicht das bilanzielle Eigenkapital an die Mitglieder ausgeschüttet werden konnte, führte das zu der erstaunlichen Situation, dass Jahr für Jahr 90% der Jahresgewinne als weitere Rücklagen dem Eigenkapital zugeführt wurden. Da der Vorstand an seiner Bewertung festhielt, dass die Angemessenheit konstant bei 4% läge und Aufsichtsrat und Vertreterversammlung ihm mehrheitlich folgten, stieg damit die Anforderung an den neuen Jahresgewinn von Jahr zu Jahr. Die Mitglieder mussten also jedes Jahr mehr Einnahmen aus Nutzungsbeiträgen (Mieten) erwirtschaften, obwohl die Fremdkapitalzinsen immer niedriger wurden und eigentlich Nutzungsbeitragsenkungen möglich gewesen wären.  Das führte dazu, dass das Unternehmen begann in Geld zu schwimmen und in Immobilien investierte, die für die eigenen Mitglieder wenig attraktiv waren.

 In Artikel 1 des französischen Gesetzes heißt es zu Prinzipien:

"La coopérative est une société constituée par plusieurs personnes volontairement réunies en vue de satisfaire à leurs besoins économiques ou sociaux par leur effort commun et la mise en place des moyens nécessaires.

Elle exerce son activité dans toutes les branches de l'activité humaine et respecte les principes suivants : une adhésion volontaire et ouverte à tous, une gouvernance démocratique, la participation économique de ses membres, la formation desdits membres et la coopération avec les autres coopératives."

in meiner Übersetzung mit Hilfe von google translator und deepL

"Die Genossenschaft ist eine Gesellschaft, die von mehreren Personen gegründet wird, die sich freiwillig zusammengeschlossen haben, um ihre wirtschaftlichen oder sozialen Bedürfnisse durch gemeinsame Anstrengungen und die Schaffung der erforderlichen Mittel zu befriedigen. Sie übt ihre Tätigkeit in allen Bereichen der menschlichen Tätigkeit aus und respektiert folgende Grundsätze: freiwillige Mitgliedschaft und Offenheit für alle, demokratische Leitung, wirtschaftliche Beteiligung ihrer Mitglieder, Ausbildung dieser Mitglieder und Kooperation mit anderen Genossenschaften."

Ich weiß nicht inwieweit diese Prinzipien tatsächlich durchsetzbar sind und ob dies durch ihre Nennung im Gesetz beabsichtigt war. So bekommen sie auf jeden Fall mehr Gewicht und sind besonders für alle Mitglieder von Genossenschaften als Orientierung sichtbar und können helfen, Genossenschaften wieder dahin zu bringen, das zu machen, wofür sie einmal gegründet wurden. Man sollte jedoch auch bereit sein im Einzelfall zu schauen, inwieweit ein Prinzip hilfreich ist oder schadet. Wenn eine Wohnungsgenossenschaft zum Beispiel bereits viele Mitglieder hat, die noch eine Wohnung benötigen, macht es wenig Sinn weitere Mitgliedschaften zuzulassen. Oder ein Softwareberatungs- und Unternehmensberatungsunternehmen, das als Produktivgenossenschaft geführt wird, wird sich nicht unbedingt für andere Mitglieder öffnen können, die nicht auch auf der Arbeitsebene eine gute Ergänzung sind. Gut  gefällt mir die Idee der Ausbildung der Mitglieder. Das heißt, man versucht sie ins Boot zu bekommen nicht nur als formale Mitentscheider sondern ihre Kompetenz zu erhöhen. Auch wenn sie in Deutschland Mitunternehmer sind kann das motivieren der Tendenz entgegenzuwirken für sie alles zu regeln, so dass sie sich in einer passiven Rollen finden und sich gar nicht mehr zutrauen, unternehmerisch mit zu entscheiden. Auch die Idee mit anderen Genossenschaften zu kooperieren, auch in der gleichen Branche, ist gar nicht so selbstverständlich. In einem konkreten Fall sprach sich ein Mitglied einer Genossenschaft dagegen aus, dass ein anderes Mitglied einer sich neu gründenden Genossenschaft beratend zur Seite stand.

 2. von Deutschland lernen: das Minimalkostenprinzip im deutschen Genossenschaftsverständnis ist im Gegensatz zum französischen Gießkannenprinzip wirtschaftlich effizient und damit nutzenmaximierend und nachhaltig

In einem sehr empfehlenswerten Buch über nachhaltiges Wirtschaften [Walter Kahlenborn u.a. "Auf dem Weg zu einer Green Economy : wie die sozialökologische Transformation gelingen kann"] wird benannt, dass umweltfreundlich/nachhaltig agierende Unternehmen drei Kriterien erfüllen müssen: Sie müssen 1. effizient, 2. suffizient und 3. konstistent/widerspruchsfrei sein. Dabei geht es nicht um Perfektion aber darum, in allen drei Bereichen so gut wie möglich zu werden.

Bei Wirtschaftsunternehmen heißt effizient, dass mit eingesetzten Ressourcen nach dem ökonomischen Prinzip umgegangen wird. Bei Genossenschaften als bedarfsdeckenden Unternehmen bedeutet das die Erfüllung von Grundbedarfen nach dem Minimalkostenprinzip/Haushaltsprinzip anzustreben. So wird der Ressourceneinsatz minimiert und die Ersparnisse für privaten Haushalte maximiert. Dabei sind die Mitglieder der Genossenschaft Mitunternehmer, Teilhaber, Nutzer und Kapitalgeber und decken ihre Grundbedarfe in einem bestimmten Produktbereich durch die selbstorganisierte und selbstverwaltete Organisation eines Geschäftsbetriebes.

Im Deutschen Genossenschaftsgesetz kommt dies unter anderem dadurch zu Geltung, dass §19 regelt, dass alle Überschüsse am Ende einer Rechnungsperiode, die jährlich ist" an die Mitglieder auszuschütten bzw. defakto zurückzuzahlen ist (mit der Einschränkung, dass die Satzung etwas anderes regeln kann). Dafür eignet sich inbesondere die Form der genossenschaftlichen Rückvergütung. Im Französischen Genossenschaftsgesetz ist es genau umgekehrt. Hier gilt der Grundsatz, dass etwaige Überschüsse im Unternehmen als Rücklagen verbleiben sollen mit der Möglichkeit in der Satzung etwas anders zu regeln [eine ausführlichere Darstellung der französischen Ideen und gesetzlichen Regelungen zu Genossenschaften findet sich bei Beuthien Volker, Klappstein, Verena "Sind genossenschaftliche Rücklagen ein unteilbarer Fonds?", S. 77-79]. In Frankreich wird also angenommen, dass mehr Rücklagen mehr Unternehmensaktivität in der Zukunft erlaubt und das vorzuziehen ist. Das ist ein expansiver und letztlich sogar unendlich expansiver Ansatz. Er ist damit grundsätzlich auf eine unendlich hohen Ressourcenverbrauch angelegt und widerspricht dem Minimalkostenprinzip. Diese expansive Ausrichtung ist zur Deckung von Grundbedarfen wenig sinnvoll. Wie schon Goethe sagte in Hermann und Dorothea "Vieles wünscht sich der Mensch, und doch bedarf er nur wenig" siehe auch mein Artikel zu Brodbeck und Marshall. Der Deutsche Ansatz nimmt von Mitgliedern so wenig wie möglich und so viel wie nötig und maximiert das Ihnen verbleibende Haushaltseinkommen und überlässt es ihnen, was sie damit machen wollen. Sie können es immer noch für wohltätige Zwecke spenden wenn Ihnen ihre Genossenschaft zu mitgliederorientiert handelt, sie können es ansparen oder für Dinge ausgeben, wo sie einen anderen Grundbedarf haben oder um sich Wünsche zu erfüllen, die weiter oben in ihrer individuellen Zielhierarchie angesiedelt sind, siehe Maslowsche Bedürfnisshierachie (Ausdruck ist ungenau, da hier Wünsche als Bedürfnisse bezeichnet werden).

Da Genossenschaften für Privathaushalte von ihrer Grundstruktur her bedarfswirtschaftlich sind, sind sie tatsächlich eine Form von Subsistenzwirtschaft im Sinne des oben verlinkten Wikepiedia-Artikels.

Was ich hier in meinem Blog zu leisten versuche und was die genossenschaftliche Betriebswirtschaftslehre und die bedarfswirtschaftliche Säule innerhalb der allgemeinen Betriebswirtschaftslehre leisten können, ist Effizienz und Sufizienz widerspruchsfrei zusammen zu bringen bzw. die Widersprüche so klein wie möglich zu bekommen, ohne die Handlungsfreiheit in der Praxis über Gebühr zu beschränken, eben Theorie und Praxis als Teil eines Ganzen zu sehen und fortzuentwickeln bzw. sie weiter zu entfalten zum dem, was in der Genossenschaftsidee und dem Ansatz von öffentlichen Unternehmen und Stiftungsunternehmen  angelegt ist.



Freitag, 4. Juni 2021

Wohnungsgenossenschaftliche Fingerübung 1

Viele traditionsreiche Wohnungsgenossenschaften in Deutschland (hier im weiteren als Woges abgekürzt) haben sich über Jahrzehnte zu normalen gewinnorientierten Unternehmen entwickelt und dabei besondere Potentiale von Genossenchaften wie die bestmögliche wirtschaftliche Förderung ihrer Mitglieder aus den Augen verloren. Genossenschaften sind vom Ansatz her bedarfswirtschaftliche Unternehmen, die darauf angelegt sind, Grundbedarfe zu decken, statt immer neue Möglichkeiten zu entdecken über besondere Angebote höhere Nachfrage und höhere Preise zu erzielen und damit hohe Gewinne und Renditen zu erwirtschaften. Damit sind Genossenschaften potentiell  besser geeignet zu einer umweltfreundlichen Wirtschaft beizutragen, die langfristig das Überleben der Menschheit und anderer Lebensformen auf der Erde sichert, als gewinnorientierte Unternehmen.

Hier soll ein aus der Praxis kommendes Gegenargument gegen eine "streng" genossenschaftliche Unternehmenspolitik in Woges aufgeführt und widerlegt werden:

Argument:

Eine echte Kostenmiete auf Selbstkostenbasis führt dazu, dass Wohnungen in Altbauten sehr niedrig Genossenschaftsmitgliedern zur Nutzung überlassen werden können und neuere Wohnungen bei den heutigen Grundstückspreisen und Baukosten vergleichsweise teuer angeboten werden müssen. Das ist ungerecht und kann dazu führen, dass Mitglieder, die noch keine Wohnung haben, sich gar keinen genossenschaftlichen Wohnraum leisten können oder eben sehr viel mehr zahlen müssen als Genossen, die in alten Wohnungen wohnen. Es entsteht eine Zweiklassengesellschaft.

Hintergrund und Widerlegung:

Menschen, die im Eigentum wohnen, sind Preissteigerungen im Bausektor naturgemäß weniger stark ausgesetzt als Menschen, die zum Beispiel neu in eine Stadt kommen und Wohnraum suchen. Genossenschaften als Teilhabegemeinschaften am Eigentum vieler Wohnungen haben eine Stellung, die näher bei Eigentümern von Häusern und Eigentumswohnungen steht als bei Mietern. Wer in Wohneigentum zieht, nimmt damit aber auch Nachteile in Kauf. 

In der Regel akzeptiert ein Haus- oder Wohnungseigentümer einen bestimmten Wohnstandard als gegeben und akzeptiert, dass dieser sich über die Zeit nicht weiter verbessert, während neuere Häuser komfortabler sind. Auch hat er Unwägbarkeiten, wann er wie viel in Instandhaltung und energetische Sanierung investieren muss. Außerdem geht er bei Einzug oft an seine finanzielle Belastungsgrenze durch Aufnahme eines Kredites, wird dann aber damit belohnt, auf sehr viele Jahre die Sicherheit zu haben, keiner Steigerung seiner monatlichen Ausgaben für sein Wohnen ausgesetzt zu sein. Woges können diese Vorteile grundsätzlich ähnlich bzw sogar noch besser anbieten: kauft jemand eine neue Eigentumswohnung oder ein neues Haus, muss er auch die Gewinnmarge des Vermarkters bezahlen. Woges können dadurch, dass sie eigenes Immobilien-Know-How aufbauen, sowohl im Bereich Neubau als auch im Bereich Wohnungsinstandhaltung, diese Leistungen effizient und zu Selbstkosten realisieren und müssen darauf keine Rendite erwirtschaften. 

 Traditionsreiche Woges können beides anbieten, 

- sehr günstige Altbauwohnungen mit bescheidenem Wohnkomfort und dem Risiko, dass das niedrige Niveau nicht dauerhaft gehalten werden kann weil energetisch saniert werden muss und 

- Neubauwohnungen, die sehr viel teurer sind aber immer noch leicht unter den Marktpreisen für Neubauten liegen, weil sie damit ja keine Rendite erzielen wollen wie gewinnorientierte Vermieter. 

Durch Versterben von Mitgliedern oder Wegzug werden immer wieder Altbauwohnungen frei für unversorgte Mitglieder. Dass Neubauwohnungen leicht unter Marktpreisen angeboten werden können, also auf der Nachfrageseite es offenkundig sehr viele Menschen gibt, die genügend Einkommen haben, ist zumindest ein Indiz dafür, dass für einen Teil der Mitglieder der jeweiligen Woge auch Neubauten eine interessante Option sind.  

Betriebswirtschaftlich führt dabei die Kalkulation der Nutzungsentgelte für alle Wohnanlagen auf Basis der Selbstkosten dazu, dass keine Wohnanlage Verluste macht und keine das Risiko für die Genossenschaft erhöht. Schafft man hingegen einen permanten Ausgleich, indem alte günstige Wohnungen teurer als nötig vermietet werden und neuere subventioniert werden, handelt man betriebswirtschaftlich fahrlässig und entgegen dem Prinzip des vorsichtigen Kaufmanns: dann würde eine weitere Bautätigkeit immer riskanter, weil immer mehr Wohnanlagen als Verlustbringer ins Wohnungsportfolio hereingenommen werden. Fallen dann bisherige Gewinnbringer (Cash cows) weg, weil Altbauten zum Beispiel aufgrund gesetzlicher Vorgaben und angesichts einer drohenden Klimakatastrophe CO2-neutral saniert werden müssen, kann das ganze Unternehmen in die Verlustzone geraten, von Insolvenz bedroht sein bzw. davon bedroht sein, ein Teil des Wohnungsbestandes zum Nachteil der dort wohnenden Mitglieder verkaufen zu müssen.

Ergänzung zum 05.06.2021

Gestern merkte ein Leser mir gegenüber an, dass das Risiko der Insolvenz theoretisch richtig sei aber praktisch keine Relevanz habe, da die betroffene Genossenschaft ja die Nutzungsbeiträge erhöhe könne. Spannend bei Neubaunutzungsbeiträgen in Genossenschaften ist es, auf die Perspektive der Nutzer zu schauen. Sie haben als Miteigentümer das Potential ihre Haushaltsausgaben im Bereich Wohnen auf lange Sicht konstant zu halten. Indem sie eine Immobilie nutzen, die auf der Höhe der Zeit ist, wäre es normal, wenn diese Ausgaben für 10, 15 ja vielleicht sogar 20 Jahre nicht weiter steigen würden. Kalkulieren Genossenschaften Preise unter den tatsächlichen Selbstkosten und müssen sie diese erhöhen, um eine Insolvenz zu vermeiden, wird den Mitgliedern dieser Vorteil genommen. Man hat ihnen eine Möglichkeit angeboten, die gar nicht langfristig sicher durchhaltbar war. Wichtig ist hier Transparenz der tatsächlichen Selbstkosten für die Mitglieder, die ja auch Mitunternehmer sind. Außerdem kann sich auch in der Praxis die Nachfragesituation auf Wohnungsmärkten ändern. Sollte die Nachfrage nach Wohnraum auf einem bestimmten Wohnungsmarkt sinken, zum Beispiel wegen einer großen Wirtschaftskrise mit Unternehmensinsolvenzen und Wegzug von Bewohnern und/oder wegen einer Pandemie mit stark ansteigenden Sterbezahlen in der Bevölkerung, kann es passieren, dass im Neubaubereich die Marktmieten sogar sinken. 

Hier wird eine weitere interessante Frage deutlich. Genossenschaften haben bei der Kalkulation der Nutzungsbeiträge von Neubauten zwei Möglichkeiten: Sie können nach dem Selbstkostenprinzip alle erkennbaren Kosten einkalkulieren oder sie beginnen mit niedrigeren Beiträgen und planen nach ein paar Jahren Steigerungen ein, wie sie sie für den allgemeinen Mietmarkt erwarten. Aus Nutzersicht hat letzteres den Vorteil, dass die Beiträge am Anfang niedriger sind. Dafür müssen sie danach aber deutlich gesteigert werden. Man muss ja das wieder aufholen, was man sich erlaubt hat, vorher nicht einzunehmen. Nutzer und Genossenschaft können nun argumentieren, dass sie künftig wahrscheinlich höhere Einnahmen haben werden, weil Gehälter oder Renten steigen werden. Das setzt Menschen unter Druck, da es nicht sicher ist, dass es so kommt. Es gab bei Renten Zeiten (zum Beispiel um 2010), als mehrere Jahre hintereinander die Renten konstant blieben. Das passiert gerade wieder und kann weiter vorkommen. Und auch Gehaltsteigerungen sind nicht sicher. Wenn ich eine Arbeitsstelle verliere oder selbst kündige, weil ich unglücklich bin und mich umorientieren will, ist es eine zusätzliche Belastung, wenn in dieser Zeit die Nutzungsbeiträge erhöht werden. Eine solide Haushaltswirtschaft würde hier keine Risiken eingehen und will von Beginn an wissen, was etwas kostet und will, dass dies in den Preisen, hier den Nutzungsbeiträgen, auch transparent wird. Wenn mein Einkommen dann steigt schön, aber ich will mich nicht davon abhängig machen später höhere Einnahmen erzielen zu müssen. Deshalb glaube ich, dass für Genossenschaften auch hier das Selbstkostenprinzip nicht verwässert werden soll und die Nutzungsbeiträge von Anfang an alle erkennbaren Kosten abbilden sollte. In der Praxis bedeutet das, dass die Anforderungen an die Genossenschaft steigen, einen guten Mix zu finden für ihre Mitglieder an einem bestimmten Wohnungsangebot zu attraktiven Kosten. Sie muss sich womöglich viel Arbeit machen und in einen engen Austausch mit Mitgliedern gehen, um das Niveau an Bauleistungen zu finden, das die Mitglieder mit einem Wohnungsbedarf sich dauerhaft leisten wollen und können und Bauunternehmen finden, die dies kosten- und qualitätsseitig realisieren können. 

Mir ist derzeit nicht bekannt, ob es eine Ausformulierung einer guten Privathaushalts-Wirtschaftslehre gibt, die in die Wirtschaftswissenschaften, genauer die Mikroökonomie, integrierbar ist. Dort gibt es ja bisher Ansätze wie consumer choice theory, mathematische Modelle wie die Budgetgerade usw. Die genossenschaftliche Betriebswirtschaftslehre - und mit ihr die allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit einer bedarfswirtschaftlichen Säule - würde, denke ich, davon profitieren, sich mit einer lebensnahen aussagekräftigen, aber auch theoretisch fundierten Privathaushalts-Wirtschaftslehre zu koordinieren, da auch sie die Nutzenmaximierung der Haushalte der Mitglieder verfolgen sollte. Letztlich müssen wir auch als Menschheit auf diesem Planeten mit seinen endlichen Ressourcen haushalten. Hierin liegt vielleicht das große Geschenk, das Genossenschaften der Welt neben ihrem eigentlichen Zweck machen können, dass sie mit allen diesen Bereichen kompatibel sind und mit Kooperation und Selbstorganisation selbst Prinzipien verkörpert, die auch im kleineren (Privathaushalt) und größeren Ganzen (Planet) langfristig sinnvoll sind und das Potential in sich tragen ihn und uns auf einen höheren Entwicklungsstand zu heben, uns voll zu entfalten, zu dem was wir sind bzw. was in uns schon immer angelegt war.

Dienstag, 23. Februar 2021

Verbesserungsvorschlag an den Stiftungsrat der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen

Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit schlage ich ein Projekt vor,  das untersucht, ob es sinnvoll ist, die Jahresgebühr für Erwachsene von derzeit 45 € auf 20 € zu senken. 

Begründung:

als Diplom-Betriebswirt (FH) befasse ich mich mit Preistheorie und Preispolitik von bedarfswirtschaftlichen Unternehmen. Dazu gehören zum Beispiel Wohnungsgenossenschaften, öffentliche Unternehmen und Stiftungsunternehmen. Mir ist aufgefallen, dass die Preispolitik der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen in einem zentralen Punkt  wahrscheinlich deutlich verbessert werden kann, nämlich bei der Jahresgebühr von 45,- € für Erwachsene,  die älter als 26 Jahre sind. Damit erzielen Sie wahrscheinlich eine suboptimale Wirkung, die nicht Ihren Zielen entspricht:

Sie bieten ein öffentliches Gut an, das möglichst von all denen genutzt werden soll, die eine Nachfrage danach haben. Wirtschaftswissenschaftlich kommt hier die sogenannte Ausgleichsfunktion des Preises ins Spiel, also die möglichst optimale Zusammenführung von Angebot und Nachfrage (siehe unten). 

Ein Beispiel für ein vergleichbares Unternehmen, das hier besser aufgestellt ist, ist die Münchner Stadtbibliothek mit 20,- € Jahresgebühr. Die New York Public Library verlangt 0$. Ich bewerte hier nicht welche dieser beiden Optionen für die Hamburger Bücherhallen langfristig besser wäre. Hier kommt die Erziehungsfunktion und die Selektionsfunktion ins Spiel (siehe Tabelle).

Preise haben ökonomisch sechs Funktionen, die mal mehr mal weniger wichtig sind. Ich liste diese hier auf ergänzt um Hinweise, inwieweit dies im Kontext einer öffentlichen Bibliothek relevant ist:

Es soll hier angenommen werden, dass Menschen mit einem hohen Ausleihebedarf (>= 10 Bücher pro Jahr) in diesem Alterssegment die 45,.- € bereitwillig bezahlen (bei Lastschrift 40,-). Bei Menschen, die nur wenige Bücher im Jahr ausleihen würden, zum Beispiel, weil sie selbst viele haben und/oder kaufen und deshalb einen niedrigeren Bedarf nach Ausleihe haben oder weil sie wenig Interesse an Büchern haben, soll angenommen werden, dass der Preis dazu führt, dass mit einem Anteil von 10-50% diese keine Jahersmitgliedschaft abschließen, obwohl sie eigentlich daran Interesse haben, das heißt eine Nachfrage besteht. Ein weiterer Grund dafür, dass Menschen mit einer Nachfrage nach Ausleihungen dies nicht bei Kosten von 45 € tun ist, dass Fachbücher auch in anderen Hamburger Bibliotheken günstiger ausleihbar sind: In der Universitätsbibliothek Hamburg kostet die Mitgliedschaft 20,- € pro Jahr, in der Wirtschaftsbibliothek ZBW des Leibnitz-Instituts an der Binnenalster (ehemals HWWA) ist sie kostenlos. Dadurch wird der Kreis der Bücher, die sie in der öffentlichen Bücherhalle ausleihen würden, noch kleiner und das Kosten-/Nutzenverhältnis schlechter. Zur Not lesen sie Bücher einfach vor Ort, um die Jahresgebühr zu vermeiden, auch wenn sie sie eigentlich gerne ausleihen würden. Es wird also angenommen, dass zumindest ein Teil der Erwachsenen in Hamburg mit einer Nachfrage nach Buchleihen auf eine Preisänderung reagiert. Ökonomisch ausgedrückt heist das, dass die Preiselastizität der Nachfrage nicht null ist, also dass die Nachfage nicht vollkommen unelastisch ist.

Nach meinem jetzigen Kenntnisstand führt der status quo zum einen dazu, dass ein Teil der Nachfrage von Hamburgerinnen ungedeckt bleibt und zum anderen, dass dadurch die Bücherhallen weniger relevant sind, als sie sein könnten und die Gefahr besteht, dass dies eher zunimmt als abnimmt.

Preis-Funktion Erklärung relevant für Bücherhallen
Signalfunktion macht deutlich, ob ein Produkt knapp ist nein, die Bereitstellung kostet Geld, weniger die Tatsache, ob Wenig-Ausleiher daran teilnehmen
Lenkungsfunktion die Produktionsfaktoren sollen nach ihren Kosten effizient genutzt werden nein, das Angebot wird als Ganzes bereit gehalten unabhängig von Jahrsgebühren
Ausgleichsfunktion Angebot und Nachfrage sollen möglichst weitgehend zusammengeführt werden ja, da das Angebot für alle als Ganzes bereit gestellt wird, sollte möglichst die ganze Nachfrage abgedeckt werden, soweit dadurch keine Verluste entstehen (Grenzkosten)
Erziehungsfunktion um Verschwendung zu vermeiden evtl., man könnte auch Achtungsfunktion sagen, ein Preis >0, zB 20€, macht deutlich, dass Kosten entstehen und dass ein guter Umgang als Nutzer angezeigt ist
Selektionsfunktion in der Konkurrenz mit anderen sollte man nicht zu teuer sein, sonst scheidet man aus dem Makrt aus ja, wenn andere Bibliotheken oder das Internet kostenlos sind, sollte man schauen, dass man nicht zu teuer ist, auch nicht für einzelne Nutzergruppen, sonst wird man weniger relevant
Zuteilungsfunktion Steuerung der Konsumfunktion der Haushalte ja, auch hier will man gerne, dass alle Haushalte, die Interesse habe, Ausleihungen nutzen

Wie groß die Fehllenkung ist, könnte man untersuchen, indem man ermittelt, ob es Unterschiede gibt in der Nutzerstuktur zu anderen öffentlichen Bibliotheken mit niedrigerem Preis und im Vergleich wie viel % der Einnahmen jeweils aus der Jahresgebühr Erwachsene stammen. Hat man hier Zahlen, sind diese mit Umsicht einzuordnen. Meine Vermutung ist, dass 20€ Jahresgebühr dazu führen würde, dass bis auf Ausnahmen alle Nachfrager das Angebot annehmen würden, man also eine signifikant höhere Ausgleichsfunktion über den Preis erhält als derzeit.

Als Stiftungsrat schauen Sie auf die Stiftungsziele. Ein Vorstand hat den Druck, das umgesetzt zu bekommen und da sind 45 € statt 20,- € Jahresgebühr erst einmal verlockend. Wenn das zu einer suboptimalen Bedienung der Nachfrage führt, braucht er Ihre Unterstützung, dass Alternativen entwickelt werden, damit er kostendeckend arbeiten kann. Zum einen kann das eine höhere öffentliche Zuwendung sein, zum anderen private Spenden. Beim ersten Faktor ist es sinnvoll, den Wohlfahrtsverlust abzuschätzen, der durch die jetzige mehr als doppelt so hohe Preisgestaltung wie bei einem vergleichbaren Unternehmen entsteht, als auch die Risiken zu untersuchen und ausgewogen zu bewerten, die sich dadurch langfristig ergeben. Dadurch bekommt man valide Argumente an die Hand, die eine höhere öffentliche Förderung rechtfertigen. Ich vermute, beim zweiten Faktor können wir alle von der amerikanischen Gesellschaft etwas lernen, sowohl als private Mäzene, als auch in der Kommunikation als Stiftung Spenden zu akquirieren. Anbei zur Inspiration ein link zur New York Public Library "Make a Memberhsip Gift".

 https://secure.nypl.org/site/Donation2?7823.donation=form1&df_id=7823&mfc_pref=T&s_src=FRQXXZZ_QAGO 

Anmerkung: Eine Preissenkung von 45 € auf 20 € wird wahrscheinlich nicht zu einem proportionalen Einnahmeverlust führen, sondern zu einem niedrigeren, da dadurch wahrscheinlich mehr Menschen einen Jahresbeitrag zahlen. Aber da insgesamt die Preiselastizität nicht allzu hoch sein wird, wird der Umsatz aus diesem Bereich wahrscheinlich zurückgehen. Es wird also unter sonst gleichen Bedingungen (keine Kostensenkungen oder Einnahmensteigerungen aus anderen Bereichen) notwendig, über die Faktoren 1 und/oder 2 weitere Einnahmen zu generieren.

 

Sonntag, 21. Februar 2021

Mehr zu Marshall II - inklusive einer Rezeption bei Karl-Heinz Brodbeck

jetzt wird es spannend .... ich zitiere einfach mal :) Mashall S. 86, Chapter II wants in relation to activities:

"§1 Human wants and desires are countless in number and very various in kind: but they are generally limited and capable of being satisfied. The uncivilized man indeed has not many more than the brute animal; but every step in his progress upwards increases the variety of his needs together with the variety in his methods of satisfying them. He desires not mere larger quantities of the things he has been accustomed to consume, but better qualitities of those things, and the things that will satisfy new wants growing up in him."

Ich hatte gestern schon geschrieben, dass ich die Idee von Besanko/Braeutigam mit ihrem Beispiel holprig fand zu glauben, es gäbe Leute, die Kleidung durch Lebensmittel ersetzen würden oder umgekehrt. Letztlich ist das absurd. Vielleicht sagt es mehr über die Autoren aus als ihnen klar ist. Die Wirtschaftswissenschaft kommt aus eine Zeit als Mangel bei grundlegenden Dingen wie Kleidung und Nahrungsmittel entweder noch real war oder zumindest im kollektiven Bewusstsein noch präsent war. Heute haben in der westlichen Welt mehr Menschen ein Problem damit, dass sie zu viel essen und dass sie Kleidung aussortieren müssen als damit, neue kaufen zu müssen. Dass Fettleibigkeit in vielen Ländern der Welt sehr verbreitet ist, zeigt ein Artikel bei Spiegel online.

Offenkundig steht Marshall mit obiger Aussage im Gegensatz zu dem in Hexametern geschriebenen idyllischen Epos "Hermann und Dorothea" von Goethe "Vieles wünscht sich der Mensch, doch bedarf er nur wenig;". Der ganze Abschnitt bei Goethe (siehe unten) ist ein Plädoyer für die Beständigkeit im Gegensatz zum Fortschritt. Marshalls Einseitigkeit wird deutlich, wenn man sich einen meditierenden Buddha oder einen wandernden Jesus vorstellt und sieht, dass Mashall sie als "uncivilized" und "not many more than brute animals" bezeichnen müsste, um sich nicht zu widerprechen. Einfache Mahlzeiten sind oft die besten, noch dazu, wenn wir sie mit Menschen teilen, deren Anwesenheit uns freut.

Marshall unterscheidet also nicht zwischen Bedürnissen und Wünschen, sondern, glaubt sie seien letztlich unzählbar viel, und es würden durch die Zivilisation immer neue dazukommen also insgesamt immer mehr werden.

Karl-Heinz Brodbeck setzt sich zwar mit Marshall auseinander in seinem Werk "Die Herrschaft des Geldes",2. Auflage, 2012, in dem Kapitel "Die Ordnung der Bedürfnisse", S. 852f. und rezipiert  weitere interessante Aspekte, wie sie verschiedene Wirtschaftswissenschaftler analysiert haben, aber die Beobachtung Goethes, dass es einen kategorialen Unterschied zwischen Bedürnissen und Wünschen gibt und dass dies wichtig ist in einer Welt mit begrenzten Ressourcen, weil es von dem einen nur wenige, von dem anderen aber zahllose gibt, entgeht auch ihm.

Meine These bleibt also bestehen, dass die Wirtschaftswissenschaft zwischen Bedürfnis und in Geld ausdrückbaren Wunscherfüllungen unterscheiden muss in Anlehnung an Goethe. Es geht also nicht darum, das eine über das andere zu stellen weder in die eine noch in die andere Richtung. Beides gelten zu lassen und beidem den richtigen Platz zuzuweisen, sowohl im eigenen Leben als auch in Gesellschaften als auch insgsamt auf diesem Planeten ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Diese werden wir wohl nur lösen, wenn uns die Zusammenhänge bewusst sind und auch die Wirtschaftswissenschaft sie in ihren Aussagen berücksichtigt.

ganzes Zitat bei Goethe: fett einige "bedarfswirtschaftliche" Passagen

Aber der treffliche Pfarrer versetzte, würdig gesinnt, drauf:
Widersprechen will ich Euch nicht. Ich weiß es, der Mensch soll
Immer streben zum Bessern; und, wie wir sehen, er strebt auch
Immer dem Höheren nach, zum wenigsten sucht er das Neue.
Aber geht nicht zu weit! Denn neben diesen Gefühlen
Gab die Natur uns auch die Lust, zu verharren im Alten
Und sich dessen zu freun, was jeder lange gewohnt ist.
Aller Zustand ist gut, der natürlich ist und vernünftig.
Vieles wünscht sich der Mensch, und doch bedarf er nur wenig;
Denn die Tage sind kurz, und beschränkt der Sterblichen Schicksal.
Niemals tadl' ich den Mann, der immer, thätig und rastlos
Umgetrieben, das Meer und alle Straßen der Erde
Kühn und emsig befährt und sich des Gewinnes erfreuet,
Welcher sich reichlich um ihn und um die Seinen herum häuft,
Aber jener ist auch mir werth, der ruhige Bürger,
Der sein väterlich Erbe mit stillen Schritten umgehet
Und die Erde besorgt, so wie es die Stunden gebieten.
Nicht verändert sich ihm in jedem Jahre der Boden,
Nicht streckt eilig der Baum, der neugepflanzte, die Arme
Gegen den Himmel aus, mit reichlichen Blüthen gezieret.
Nein, der Mann bedarf der Geduld; er bedarf auch des reinen,
Immer gleichen, ruhigen Sinns und des graden Verstandes.
Denn nur wenige Samen vertraut er der nährenden Erde,
Wenige Thiere nur versteht er, mehrend, zu ziehen,
Denn das Nützliche bleibt allein sein ganzer Gedanke.
Glücklich, wem die Natur ein so gestimmtes Gemüth gab!
Er ernähret uns alle. Und Heil dem Bürger des kleinen
Städtchens, welcher ländlich Gewerb mit Bürgergewerb paart!
Auf ihm liegt nicht der Druck, der ängstlich den Landmann beschränket;
Ihn verwirrt nicht die Sorge der viel begehrenden Städter,
Die dem Reicheren stets und dem Höheren, wenig vermögend,
Nachzustreben gewohnt sind, besonders die Weiber und Mädchen.
Segnet immer darum des Sohnes ruhig Bemühen
Und die Gattin, die einst er, die gleichgesinnte, sich wählet.

Quelle hier und auf Englisch S.36/37 als pdf hier 

und dazu im Gegensatz ein Gedicht von Wilhelm Busch über die Zahllosigkeit der Wünsche mit Dank an Inge Henschel für den Tipp:

 Niemals

 Wonach du sehnlich ausgeschaut,
es wurde dir beschieden.
Du triumphierst und jubelst laut:
"Jetzt hab' ich endlich Frieden!"
 
Ach, Freundchen, rede nicht so wild.
Bezähme deine Zunge.
Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt,
Kriegt augenblicklich Junge.
 

 

Mehr zu Marshall

Ich hatte gestern auf Alfred Marshalls "Principles of Economics" Bezug genommen und einen Fallstrick der Wirtschaftswissenschaften abgeleitet, der sich aus einer Idee der Nutzenmessung ergibt, die bei ihm zu finden ist. Vorgestern hatte ich erwähnt, dass ein Problem der Wirtschaftswissenschaften in ihrem Antropozentrismus liegt und diese damit im Gegensatz zu einer ganzheitlichen Weisheit steht, wie sie sich zum Beispiel in der Rede des Häuptings Seattle findet. Ich will dies hier an Hand von Marshalls Buch belegen. Das Buch ist wichtig, da es Generationen von Ökonomen beeinflusst hat, siehe hier und hier

Auf Seite 20 (8. Auflage published 1997) schreibt Marshall:"By far the greater number of the events with which economics deals affect in about equal proportions all the different classes of society; so that if the money meassures of the happiness caused by two events are equal, it is reasonable and in accordance with common usage to regard the amounts of happiness in the two classes as equivalent. And further, as money is likely to be turned to the higher uses of life in about equal proportions, by any two large groups of people taken without special bias from any two parts of the western world, there is even some prima facie probability that equal additions to their material resources will make about equal additions to the fulness of life, and the true progress of the human race."

Marshall setzt damit den Schwerpunkt für die Wirtschaftswissenschaft dahingehend, dass Nutzen oder Bedürfniserfüllung über Geld gemessen werden kann, dass wenn zwei "Ereignisse" gleich viel kosten sie im großen und ganzen gleich viel Glück bringen. Das heist natürlich wenn eines mehr Geld wert ist, es mehr Glück bringt. Wie absurd bzw. gefährlich das ist zeigt in Anlehnung an mein Beispiel von gestern, dass uns Menschen in der Regel der Kontakt mit anderen nahestehenden Menschen und auch mit der Natur glücklich macht völlig unabhängig davon, ob diese Menschen und die Natur ökonomisch produktiv sind oder nicht. Spannend bei Marshall ist, dass er Bezug nimmt zu "the western world" und "the true progress of the human race". Damit wird klar, dass es sich um die westliche Weltsicht handelt, in der er sich bewegt und dass der Fortschritt der menschlichen Rasse für ihn selbständlich der alles tragende, motiverende Wert ist, von dem er sicher ausgeht, dass er in der westlichen Welt Konsens ist und er darüber mit dem Leser Konsens hat. Heute ist eigentlich klar, dass wir uns nicht nur als Menschen verstehen (müssen), sondern als Teil eines planetaren Gemeinschaft mit der belebten und unbelebten Natur. Wahrscheinlich muss man Marshall zugute halten, dass ja nur über Gruppen von Menschen spricht und dass er anerkennt, dass es "higher uses of life" gibt und diese als in Gruppen der westlichen Welt als gleichverteilt ansieht und damit annimmt, dass sie im konkreten Fall jeweils zu gleichen Anteilen berücksichtigt wurden. Außerdem spricht er nur von Wahrscheinlichkeiten (probablilities) und nicht von Tatsachen. Wie daneben man mit solchen Aussagen liegen kann ist leider zu sehen wenn man sieht, dass der Holocaust mit Deutschland von einem Land "of the western world" ausging aber nicht von Großbritannien und auch nicht von anderen damals faschistisch regierten Ländern wie Italien. Da hatte sich in einer Gesellschaft plötzlich die Einschätzung durchgesetzt dass es zu einer additions of the happiness of life führen würde, über 6 Millionen Menschen zu ermorden. Erleichert wurde dieses Zivilisationsversagen dadurch, dass das Nazi-Regime Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Geistig Behinderten Menschen das Menschsein absprach oder sie als lebensunwert klassifizierten. Marshall könnte jetzt entgegnen, dass zum Zeitpunkt der Machtergreifung Hitlers es eben einen deutlichen "bias" gegeben hätte zwischen der deutschen und englischen Gesellschaft und es ihm ja auch um ökonomische Sachverhalte gehen würde und nicht um das Recht auf Leben, aber so klar sind da die Grenzen nicht, zum Beispiel auch heute im Bereich der Massentierhaltung in der Landwirtschaft und der Ausbreitung "of the western world" zulasten anderer menschlicher Kulturräume und von Wildtieren,  Wildpflanzen und einem stabilen Klima und einer stabilen Gesamtökologie einschließlich der Ozeane.

Meine These bleibt also bestehen, dass die Wirtschaftswissenschaft zwischen Bedürfnis und in Geld ausdrückbaren Wunscherfüllungen unterscheiden muss in Anlehnung an Goethe.

Zuletzt kann man Marshall noch zugute halten, dass er seine Aussage prima facie macht, d.h. sie nur auf Widerruf gilt solange sich keine gegenteiligen Evidenzen einstellen. Dass wir mittlere Weile mehr Ressourcen verbrauchen als wir haben, es ein großes Artensterben gibt, eine Klimakastrophe droht und ein Ökozid, ist dann wohl so eine Evidenz.


Samstag, 20. Februar 2021

Die Fallstricke der Indifferenzkurve - ein Pläydoyer zwischen Bedürfnissen und monetarisierbaren Wünschen zu unterscheiden

Die erste Idee zur Indifferenzkurve bei einem Ökonomen las ich in "Principles of Economics" von Alfred Marshall, 1890, 8. Auflage 1920, als er auf Seite 15 ein Beispiel gibt von einem Mann, der mit sich am Zweifeln ist, ob er, nachdem er seine Arbeitsstätte verlassen hat, einige Pence lieber für eine Zigarre ausgeben soll, für eine Tasse Tee oder dafür, den Bus zu nehmen, statt nach Hause zu laufen. Aus der Tatsache, dass er sich nur schwer zwischen den drei Alternativen entscheiden kann, schließt Marshall, dass "he expects equal pleasures". Daraus folgert er, dass diese Alternativen aus ökonomischer Sicht gleich bewertet werden dürfen. Marshall hebt weiter oben in seinem Text darauf ab, dass Ökonomen sich nicht mit der Psychologie von Menschen beschäftigen, warum sie zu welchen Entscheidungen kommen, sondern dass es genügt, die Faktizität der Entscheidungen wissenschaftlich zu betrachten. In Artur Wolls "Allgemeine Volkswirtschaftslehre" 12. Auflage, 1996, S. 135ff. wird die Indifferenzkurven-Analyse behandelt im Rahmen der mikroökonomischen Theorie im Kapitel zur Analyse der Nachfrage von Haushalten. Hier wird wie schon in meinem früheren Artikel angemerkt auf die kardinale Messung von Nutzen verzichtet und durch eine ordinale ersetzt. Damit greift er genau die Idee von Marshall auf. Dabei ist die Indifferenzkurve "die Verbindungslinie (der geometrische Ort) solcher Güterkombinationen, die nach Ansicht des Haushalts denselben Nutzen stiften, für ihn gleichwertig (indifferent) sind." Der in der Mikroökonomie am intensivsten behandelte Fall ist der, indem ein Gut A ein Gut B in bestimmter Menge ersetzen kann,. Bei Besanko/Braeutigam "Mikroökonomie" 2020, S. 114 wird das ziemlich holprige Beispiel Kleidung und Lebensmittel gewählt. Vor dem Hintergrund abnehmenden Grenznutzens müssen immer mehr Güter A beigebracht werden, um den Verzicht von jeweils einer Einheit von Gut B in Kauf zu nehmen. Wenn ein Haushalt einer Budgetbeschränkung ausgesetzt ist, wird er die Kombination von A und B wählen, die bei geringstem Mitteleinsatz die Indifferenzkurve erlaubt, die insgesamt den für ihn höchsten Nutzen stiftet. siehe Haushaltsoptimum . Der Fallstrick liegt darin, dass man versucht sein könnte, über die Idee der Indifferenzkurve zu glauben, dass es möglich ist jeden Haushalt zu einem Verzicht auf eine oder mehrere Einheiten von Gut A zu bekommen durch ein nur hoch genug gewählte Anzahl Einheiten von Gut B, ihn also dazu zu bekommen, diesen Nutzen als zumindest gleich hoch einzuschätzen und wenn man noch etwas von Gut B dazu gibt, letztlich zu der Entscheidung zu bringen, Gut A gegen Gut B einzutauschen. Letztlich steht dahinter die Idee, dass alles ökonomisierbar, monetarisierbar ist bzw. dass man sich die Welt mit Geld kaufen kann. So ist auch die Idee der Opportunitätskosten angelegt, die ich gestern behandelt habe, die quasi dazu führen soll, dass man bei allen Entscheidungen mitüberlegt, dass wenn etwas einen hohen Marktpreis hat, dass man sich selber in der Höhe kostenmässig belastet, dass man diese Möglichkeit nicht durch einen Verkauf auf dem Markt realisiert. Artur Woll bringt als Beispiel für nicht substituierbare Güter eine rechten und einen linken Schuh. Ein Ökonom müsste eigentlich behaupten, wenn einem Haushalt statt einem Paar Schuhe zwei rechte Schuhe angeboten würden und ein Geldbetrag x , dass diese Privatperson, wenn der Betrag nur hoch genug wäre, bereit wäre, zwei rechte Schuhe zu tragen. Es wird klar, dass wir hier an Grenzen der Menschenwürde stossen und deshalb findet sich dieses Beispiel wohl auch kaum in einem Lehrbuch der Mikroökonomie. Es ist aber sinnvoll, sich diese Aspekte bewusst zu machen, denn es gibt auch weniger krasse Beispiele. Es könnte durchaus sein, dass die Gehälter für kaufmännische Angestellte in der Zigarettenidustrie höher sind als in einem Krankenhaus, und allgemeiner in wirtschaftlichen Berufen höher als in sozialen, um die Wahrnehmung eines geringeren Sinns zu kompensieren, Menschen also nur über höhere Gehälter sich bewegen lassen, dort zu arbeiten bzw in sozialen Berufen es leichter ist, Menschen zu finden, die dort arbeiten wollen, weil sie etwas sinnvolles tun wollen und weshalb die Nachfrage nach diesen Berufen höher ist. Dies könnte letzlich sogar ein Faktor sein, warum Frauen im Durchschnitt statistisch niedrigere Gehälter haben, weil es ihnen wichtiger ist, sinnvolles zu tun und Männer schneller bereit sind, hier Kompromisse zu machen, vielleicht, weil sie sich noch verantwortlicher gegenüber ihren Familien fühlen, den Haushalt zu finanzieren. Auch das Phänomen, dass Prominente für Geld bereit sind in der Öffentlichkeit den vorgespielten Gebrauch eines bestimmten Produktes zur Schau zu stellen oder dass in Filmen bestimmte Produkte gegen Bezahlung als Requisiten ausgesucht werden und mitunter auch in die Dialoge eingebaut werden, passt hierzu. Und die Idee des Gewinns, um sich einer normalen Budgetbeschränkung als Haushalt zu entziehen und quasi eine viel höhere Ebene zu erreichen, um von derlei Entscheidungsfragen befreit zu werden, treibt möglicherweise viele Unternehmer, Spekulanten und Lottospieler an. Wie das gestrige Beispiel der kranken Tochter mit dem Bedarf einer teuren Operation gezeigt hat, gibt es aber unterschiedliche Kategorien von "Gütern", die nicht verglichen werden sollten. Insoweit sind  Grundbedürfnisse etwas anderes als die Erfüllung von Wünschen oder das Sich-Selbst-Verwirklichen durch den Konsum oder die Verwendung von Produkten. 

Ich plädiere an dieser Stelle dafür, sich dieser Unterschiede bewusst zu sein einschließlich der Grenzen und Fallstricke von ökonomischen Konzepten, soweit sie diese Unterschiede zwischen Grundbedürfnissen und Wünschen nicht beachten.



Freitag, 19. Februar 2021

Kritik bzw. Einordnung des wirtschaftswissenschaftlichen Konzepts der Opportunitätskosten

Arbeitsversion, noch nicht gut strukturiert, kann sich ändern....Stand 20.02.2021 07:11

Ergänzend zu meinem gestrigen Artikel schaue ich hier die These an,  dass das mikroökonomische Konzept der Opportunitätskosten nicht als allgemeingültig haltbar ist, weil es selbst opportunistisch ist im Sinne meines gestrigen Artikels. Verkürzt ausgedrückt besagt es, dass die beste ökonomische Entscheidung für eine Wahl A dann vorliegt, wenn es keine Alternative B gibt, die einen höheren Nutzen hat. Da das Konzept nicht zwischen Wünschen und Bedürfnissen unterscheidet, sondern in seiner engen Fassung nach der Monetarisierbarkeit auf dem Markt geht, kann es sein, dass Unsinn herauskommt. 

Beispiel

Ich wohne in einer netten, sonnigen Penthousewohnung im Zentrum von Erfurt mit netten Nachbarn. Meine Wohnbedürfnisse sind erfüllt. Mittlerweile sind die Immobilienpreise massiv gestiegen, auch vor dem Hintergrund, dass international viele Investoren sehr viel Geld zur Verfügung haben und für viele gut Betuchte auch eine die meiste Zeit leerstehende Ferienwohnung in Erfurt eine Option ist, die sie im Zweifel über Airbnb auch vermieten können. Ich hatte die Wohnung vor 15 Jahren für 200.000 € gekauft und könnte sie jetzt an den Meistbietenden für 600.000 € verkaufen. Ich könnte mir außerhalb von Erfurt auf dem Dorf für 50.000 ein Haus kaufen und für 150.000 renovieren lassen. Dann hätte ich einen abzüglich von Umzugskosten und dem Wohnen im Hotel für ein paar Monate und einem notwendigen Urlaub für den Stress der Renovierung von insgesamt 30.000 € einen Gewinn von 370.000 € gemacht. Da ich das Geld nicht brauche, lege ich es an und kaufe eine Immobilie in Berlin zur Wertsteigerung. 

Wie soll ich aber den entgangenen Nutzen kalkulieren, dass ich jetzt auf einem Dorf lebe statt in Erfurt? Gut, ich kann die Fahrtkosten in die Stadt 1-3x in der Woche kalkulieren für die nächsten 20 Jahre und mir ein Jahresticket für den öffentlichen Nahverkehr kaufen, was inklusive Inflation circa 20.000 € entspricht. Der ökonomische "Schaden", einfach wohnen zu bleiben, würde sich also auf 350.000 € verringern.

noch einmal zum Konzept laut Wikipedia:

"Gibt es keine Alternative, deren Opportunitätskosten höher sind als der Nutzen der tatsächlichen Wahl, ist die Entscheidung optimal." und

"Ein gegensätzliches Konzept sind die (Mehr-)Kosten, die man sich mit der Entscheidung gegen die jeweilige Alternative erspart: der Opportunitätserlös."

Ökonomisch optimal wäre damit der Verkauf der Wohnung. Dadurch dass ich mich nicht gegen den Verkauf entscheide, "erspare ich mir die (Mehr-)Kosten von 350.000 €, den Opportunitätserlös" .

Man könnte jetzt argumentieren, dass die Mikroökonomie behauptet, dass das Konzept der Opportunitätskosten nur für Entscheidungen in Unternehmen gelten würde und nicht für Privathaushalte. Hier ist zu entgegnen, dass es Unternehmensformen gibt, die die Nutzenmaximierung von Privathaushalten zu ihrem Unternehmensziel erkoren haben statt einer Gewinnmaximierung, zum Beispiel Genossenschaften und wahrscheinlich auf öffentlich-rechtliche Unternehmen. Eventuell gilt das Konzept nur dann, wenn auch die unternehmerische Gewinnmaximierung und Renditemaximierung gilt.

Wie passt das Konzept der Opportunitätskosten zu der Aussage der Mikroökonomie, dass es keinen objektiv quantifizierbaren Nutzen gibt sondern nur Präferenzordnungen? Insoweit dass ich auch ökonomisch belegen muss, dass für den jeweiligen Verbraucher die 350.000 € tatsächlich einen höheren Nutzen haben, als das nicht weiter monetarisierbare bzw. quantifizierbare Wohnenbleiben in Erfurt. Insoweit scheint das Konzept der Opportunitätskosten die Mikroökonomie an seine eigenen Grenzen zu führen Aussagen zu treffen, wenn Unterschiede zwischen Bedürfnissen und sich am Markt quantifizierenden mit Kaufkraft ausgestatteten Wünschen anderer (siehe Artikel gestern) ignoriert werden. 

Einschub / alternative Perspektive

Auf der englischsprachigen Wikipedia wird deutlich, dass es Ökonomen gibt, die das Konzept nicht nur auf Entscheidungen in Unternehmen anwenden siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Opportunity_cost obwohl es zum Beispiel von David Besanko, Ronald Braeutigam, Mikroökonomie, 2020 in Kapitel 7 S296 f. im Rahmen der Kostenrechnung/Entscheidungstheorie von Unternehmen behandelt wird. Bei Wikipedia wird weiter argumentiert, dass es nicht nur um quantifizierbare bzw. monetarisierbaren Nutzen geht sondern dies weiter zu denken ist. Die Frage ist dann natürlich inwieweit dies im konkreten Fall dann noch ökonomische Aussagen sind oder ob damit die Ökonomie dann einfach wieder die Präferenzordnung zwischen verschiedenen Alternativen des Entscheiders hinnimmt, die der dann allenfalls noch erläutern kann. Im konkreten Beispiel: "Mir ist es einfach wichtiger, da wohnen zu bleiben, wo ich wohne, weil ich mich da wohl fühle und weil mir diese Beständigkeit jedenfalls zur Zeit gut tut und mir fällt kein alternativer Nutzen ein, den ich höher gewichten würde, wenn ich die Wohnung verkaufen würde und den ich mit den circa 350.000 € realisieren könnte."

Auflösung

Kann es sein, dass das Konzept nur bedingt für die Entscheidungsfindung taugt und zwar nur da, wo eine unternehmerische Gewinnmaximierung Sinn macht oder da wo ganz klare starke eigene Bedürfnisse des Entscheiders im Spiel sind?

In Abwandlung des Beispieles. Wenn ich knapp bei Kasse bin, meine Tochter in den USA lebt und für eine Behandlung einer sehr schweren Erkrankung 150.000 € benötigt werden, habe ich tatsächlich durch die Option des Verkaufes einen quasi unmessbar großen Nutzen. Es kommt also auf echte Bedürfnisse an, um die richtige ökonomische Wahl zu treffen. Dann würde entsprechend des Einschubs der fiktive Wohnungsbesitzer vielleicht formulieren "Mir ist es viel mehr wert bzw. besser formuliert ein viel größeres Bedürfnis, meine Tochter am Leben zu wissen und mit ihr Kontakt haben zu können als die Umstände und die Veränderungen hinzunehmen, die ein Verkauf der Wohnung und ein Umzug ins Umland von Erfurt für mich bedeuten".

Einordnung

Ich denke, die Wirtschaftswissenschaft überschreitet ihre Grenzen, wenn sie versucht Dinge zu vergleichen, die auf unterschiedlichen Ebenen liegen. Das Leben eines Menschen ist nicht mit einem Nutzen in Geld bewertbar, das ist zum Glück grundsätzlich gesellschaftlich anerkannt. Genauso sind aber auch die Erfüllung von Grundbedürfnissen eine andere Kategorie als die Erfüllung von Wünschen. Hier kann der Ansatz der Opportunitätskosten falsch angewendet werden, wenn man nicht aufpasst. Die Aussagen von Besanko/Braeutigam S298/299 "Ökonomische Kosten sind gleichbedeutend mit Opportunitätskosten und als solche die Summe aller entscheidungsrelevanten expliziten und impliziten Kosten" und "Für einen Wirtschaftswissenschaftler sind alle entscheidungsrelevanten Kosten (egal ob explizit oder implizit) Opportunitätskosten und damit Teil der ökonomischen Kosten." sind falsch in ihrer Pauschaliät soweit damit der Glaube verbunden wird, sie auf alle Fragen anwenden zu können, bei denen es um Entscheidungen geht, die wirtschaftliche Güter und die Allokation von Ressourcen betreffen.

Dies ist erneut ein Hinweis darauf, dass die Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und monetarisierbaren Wünschen in der Wirtschaftswissenschaft Beachtung finden sollte, ohne dass ich hier aufzeigen kann, wie das am besten geschieht.




Mittwoch, 17. Februar 2021

Opportunismus in der Wirtschaftswissenschaft und darüber hinaus

Opportunismus wird in der neuen Institutionenökonomik im Zusammenhang mit dem Prinzipal-Agenten-Dilemma zurecht kritisch betrachtet, da die Zielerreichung in einem Unternehmen darunter leidet, wenn der Agent (der angestellte Vorstand) die Gelegenheit nutzt, eigene Ziele wie die Erhöhung des eigenen gesellschaftlichen Prestiges oder seines Einkommens höher zu gewichten, als es ihnen zukäme, wenn sie sich auf die Erreichung der Unternehmensziele fokussieren würde. siehe Wikipedia 

Opportunismus ist eine für Menschen typische Eigenschaft, die wahrscheinlich nur über eine hohe innere Haltung oder über soziale Kontrolle einhegbar ist. Die Fähigkeit, Gelegenheiten zu erkennen und wahrzunehmen, ist aber nicht nur negativ, sondern auch der Kern erfolgreichen Unternehmertums und Investierens. Fehlt aber der Blick und das Interesse für das größere Ganze und gibt es nur eine geringe Bereitschaft, sich in den größeren Zusammenhang zu integrieren, wird es voraussichtlich zu Fehlentwicklungen kommen. Dies gilt sowohl in Unternehmen, in politischen Gemeinwesen als auch für die Menschheit als Ganzes: Die Ressourcen dieses Planeten werden von uns über Gebühr beansprucht zu Lasten von Wildtieren, Wildpflanzen, der Artenvielfalt, des Klimas mit der Gefahr großer ökologischer Ungleichgewichte wie zum Beispiel dem Klimanotstand siehe Earth Overshoot Day laut Umweltbundesamt und sogar eines Ökozids.

Auch in der Wirtschaftswissenschaft lässt sich ein opportunistischer Ansatz erkennen: Alfred Marshall beschrieb 1890 in "Principles of Economics" ausführlich inwieweit Angebot und Nachfrage auf freien Märkten zueinander finden und dabei für ein Gut ein Wert ermittelt wird. Nach und nach erkannten Ökonomen, dass dies kein objektiver Wert ist, sondern ein Ausdruck der Präferenzordnungen von Käufer und Verkäufer. Die Käuferin entscheidet sich dafür, dass in diesem Moment sie das Gut dem Geldbetrag, den sie dafür hergibt, vorzieht und der Verkäufer entscheidet sich dafür, dass er den Geldbetrag, den die Käuferin ihm zu zahlen bereit ist, in diesem Augenblick der Möglichkeit vorzieht das Gut zu behalten mit der Möglichkeit, es selbst zu nutzen oder später einem anderen Kaufinteressenten für mehr Geld zu verkaufen. Auch Käufer werden in der Regel ein Bewusstsein dafür haben, welche Möglichkeiten es noch gibt, mit ihrem Geld ähnliche oder andere Güter zu kaufen. Den Versuch einen objektiven Nutzen "auszurechnen", gab die Wirtschaftswissenschaft auf. Zitat: "Unter dem Einfluss der positivistischen Wissenschaftstheorie wurde die Vorstellung von Nutzen als einer zahlenmäßig (kardinal) messbaren und für verschiedene Personen (interpersonal) vergleichbaren Größe nicht akzeptiert. An die Stelle addierbarer, kardinaler Nutzengrößen treten nun ordinale Bewertungen in Form von Präferenzen (x ist besser / gleich gut / schlechter als y / nicht entscheidbar). Daraus lassen sich in der Regel Rangordnungen (Präferenzordnungen) bilden." siehe Wikipedia

kleiner Exkurs

Das Thema Opportunismus ist vielschichtig. Wer erinnert sich nicht mit Bedauern an Gelegenheiten die sie verpasst hat zu ergreifen? Vielleicht einen bestimmten Menschen nicht angesprochen zu haben oder eine bestimmte Investition nicht getätigt zu haben. Und doch gibt es immer wieder neue Möglichkeiten. Von Franz Kafka stammt folgendes Zitat: " Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie." Wo lassen wir Möglichkeiten verstreichen? Wäre es nicht viel ökonomischer im Sinne von nützlicher, sich mit dieser Quelle bzw. dieser tieferen Wirklichkeit zu verbinden? Warum sind wir da nicht opportunistischer? Was verstellt einem den Blick auf diese Möglichkeit? Insoweit können opportunistisch handelnde Menschen in unserem Umfeld eine Inspiration sein, zu schauen wo man  Möglichkeiten bei wirklich schönen Dingen auslässt und sie können einem Kraft geben das beim nächsten Mal besser zu machen, besser wahrzunehmen was ist und was an Potential in einem Moment und in einer Situation angelegt ist und dann das einfach zu machen. Opportunismus kann insoweit Entdeckerfreude wecken und einem helfen zur Tat zu finden.

Zurück zur Wirtschaftswissenschaft. 

Ein Beispiel aus der wirtschaftlichen Praxis für Opportunismus ist, wenn Wohnungsgenossenschaften das Selbstkostenprinzip aus den Augen verlieren und statt dessen ihre Preispolitik an den Durchschnittspreisen des Marktes orientieren und dieses dann "Wohnwertmiete" nennen. Ich habe dazu sehr ausführlich hier geschrieben. Auch hier zeigt sich noch der Glaube an eine Objektivierbarkeit eines Wertes, der seitens der Wirtschftswissenschaft bereits verworfen wurde und man bedient sich des Marktes als Ersatz, um sich selbst die "Mühe" des Denkens zu sparen, obwohl eigentlich alle Prinzipien klar sind und in Teilen der Praxis auch angewendet werden wie zum Beispiel in der Schweiz. Auch wenn die genossenschaftliche Betriebswirtschaftslehre mit diesem Opportunismus normativ aufräumen kann, ist die Wirtschaftswissenschaft möglicherweise auch selbst nicht frei von Opportunismus: Sie will gerne Sachverhalte quantifizieren und orientiert sich deshalb gerne an empirisch messbaren Marktpreisen. Sie postuliert, dass in einer liberalen Wirtschaftsordnung eine optimale Allokation der Ressourcen über die Preisentdeckungsfunktion des Marktes mittels Ausgleich von Angebot und Nachfrage erfolgt. Sie gibt zwar zu, dass es freie Güter gibt, bei denen der Markt Schwierigkeiten hat, einen angemessenen Preis zu finden, zum Beispiel für die Möglichkeit Co2 oder Methan in die Atmosphäre zu entsorgen. Und sie akzeptiert, dass hier der Staat lenkend eingreift, zum Beispiel über Steuern und Verordnungen. Sie macht dabei aber keinen grundsätzlichen Unterschied, ob Menschen Grundbedürfnisse erfüllen oder sich Wünsche mittels monetarisierbarer Güter erfüllen. Ist das relevant? Ich denke ja, falls dies Auswirkungen hat auf  Verteilung von endlichen Ressourcen auf einem endlichen Planeten. Wenn Geldmittel ungleich verteilt sind, ist davon auszugehen, dass Menschen, die sehr viel Geld in Form von Einkommen und/oder Vermögen zur Verfügung haben, bereit sind das auszugeben, um ihre Wünsche zu erfüllen. Sie reagieren weniger oder gar nicht auf Preissteigerungen (mikroökonomisch spricht man von geringer Preiselastitizität der Nachfrage). Werden dafür die gleichen Ressourcen verwendet, wie für die Güter, mit denen Grundbedürfnisse erfüllt werden von anderen Menschen oder anderen Lebewesen, steigen auf freien Märkten die Preise für die, die Grundbedürfnisse erfüllen wollen. Am krassesten ist wahrscheinlich die Einsicht, dass Wildtiere und Wildpflanzen gar keine Geldmittel zur Verfügung zu haben um die "Güter" zu bezahlen, die sie benötigen, um leben zu können. Letztlich entstand die Wirtschaftswissenschaft zu einer Zeit, als eine antropozentrische Sichtweise im Westen selbstverständlich war. Alternative Sichtweisen wie die des Indianerhäuptlings Seattle, siehe Rede von 1855 hatten keine Macht. Stimmt es, dass es viel weniger Grundbedürfnisse gibt als Wünsche insgesamt? Goethe lässt in "Hermann und Dorothea" den Pfarrer im 5. Gesang sagen: "Vieles wünscht sich der Mensch, und doch bedarf er nur wenig." Bei Abraham Maslow taucht in seiner Bedürfnispyramide das Wort "Wunsch" auf der zweithöchsten Ebene "Individualziele" auf. Darüber geht es dann um Selbstverwirklichung. Wenn ich mich ausdrücke und damit selbstverwirkliche indem ich mir als Ausdruck meiner Individualität als Zweitwagen einen sprittfressenden Humvee oder einen Oberklasse-SUV kaufe, weil es cool ist, damit meinen Sohn vor seiner Schule abzusetzen oder einmal in die nächste Kleinstadt zu fahren, um Brötchen zu kaufen statt mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, ist das menschlich für viele nachvollziehbar. Aber so werden die Straßen voller, es wird mehr Benzin nachgefragt und es werden viele Ressourcen beansprucht. 

Die Wirtschaftswissenschaft sollte also schauen, zu welchen Aussagen sie findet, wenn sie zwischen wenigen Grundbedürfnissen und endlosen Wünschen unterscheidet, sowohl in der Mikroökonomie als auch in der Betriebswirtschaft. 

In der Betriebswirtschaft ist dies relativ leicht, da es dort bereits Unternehmensformen gibt, die auf Bedarfsdeckungswirtschaft im Gegensatz zu Erwerbs(Gewinnmaximierungs)wirtschaft ausgelegt sind: Genossenschaften, deren Nutzer Privathaushalte sind und öffentliche Unternehmen, die ebenfalls Grundbedarfe der Menschen decken wollen. Dass die Praxis in diesen Unternehmen dabei oft den normativen Aussagen hinterherhinkt, ist ein Kapitel für sich. Außerdem gibt es noch andere Unternehmensformen wie gemeinnützige GmbHs, Stiftungen und opensource-Projekte und es wäre eine spannende Frage zu schauen, ob auch eine "bedarfsorientierte" oder "nachhaltige" Aktiengesellschaft eine weitere Möglichkeit darstellt. Im Bereich Mikroökonomie ist eine spannende Frage, inwieweit Aussagen verbessert werden können bzw. neu formuliert werden können, die zwischen wenigen Bedürfnissen und endlosen Wünschen unterscheiden und insoweit mit diesem historisch verständlichen aber unbefriedigenden und nicht nachhaltigen Opportunismus aufräumen. 

Lets build a new world. :)

PS: eine neue Welt sollte Bewährtes nicht aufgeben, dazu gehören nach meiner Einschätzung Errungenschaften wie die Gewerbefreiheit, die Freiheit die Unternehmensform zu wählen, Tariffreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Trennung von Staat und Religion, freie gleiche geheime Wahlen, die parlamentarische Demokratie, die Republik als Staatsform, der Föderalismus, die Idee der Souveränität der Staatsvölker als Demos und die Idee des aktiven Staatsbürgers, des Citoyen.

Kostenmiete oder Wohnwertmiete in Wohnungsgenossenschaften, was sagt die genossenschaftliche Betriebswirtschaftslehre?

zu meinem Artikel bitte den link nutzen, da das Format mit einigen Fussnoten so leichter zu nutzen ist

            link

Autor: Frank Giebel, Hamburg, veröffentlicht am  17.02.2021, 

Diplom-Betriebswirt (FH),  B.A.Hons. European Business Administration

Geschäftsführer der Woge Wohnungsgenossenschaftliche Initiative UG (haftungsbeschränkt)