Als jemand, der sich seit Jahren dafür
engagiert, das genossenschaftliche Potential von traditionellen
Wohnungsgenossenschaften zu wecken, habe ich mich sehr
gefreut mitzubekommen, welche guten Erfahrungen sich bei
Bürgerinnenversammlungen aktuell zeigen. Ich hatte das Glück, dass ein
Bekannter von mir vor einigen Monaten als einer von 160 Bundesbürgern
per Losverfahren zur Mitarbeit in einem Bürgerrat von Mehr Demokratie eV ausgewählt wurde
und er mir sehr angetan von seinen Erfahrungen erzählte. Es ging um die Frage, ob und wenn ja welche direktdemokratischen Elemente in der Bundespolitik Deutschlands künftig eine stärkere Rolle spielen sollen. Vor kurzem
berichtete die Tagesschau:
Seit dem sind die Ergebnisse und die
Beschreibung des Verfahrens veröffentlicht:
Außerdem gibt es von Extinction
Rebellion einen ausführlichen Leitfaden, der über viele positive
Erfahrungen mit ähnlichen Verfahren in der ganzen Welt berichtet-
download im rechten Quadranten https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/unsere-forderungen/bv/
siehe auch Bericht der Deutschen Welle
https://www.dw.com/de/b%C3%BCrgerversammlungen-sollen-die-b%C3%BCrger-selbst-die-klimakrise-bew%C3%A4ltigen/a-50704524
Der Fachbegriff für diesen Bestandteil
der Demokratie ist deliberative Demokratie
Da viele traditionelle
Wohnungsgenossenschaften ihr Potential deshalb nicht entfalten,
weil die meisten Mitglieder passiv bleiben in ihrer Rolle als Mitunternehmer und Miteigentümer bzw. keine Möglichkeit sehen, wie sie sich gut einbringen können, bin ich mir
sicher, dass dieses Instrument auch in Wohnungsgenossenschaften und
sogar in der genossenschaftlichen Verbandsarbeit sehr erfolgreich
angewendet werden könnte. Viele Wohnungsgenossenschaften orientieren
sich stark an Empfehlungen ihres Verbandes, der durch seine
Prüfungstätigkeit und durch den Aufbau eines festen Mitarbeiterstamms
Eigeninteressen hat, die per se keinen Zusammenhang mit der
Genossenschaftsidee haben. Auch wenn dies im Prinzip nicht
verwerflich ist, sehe ich derzeit ein sehr deutliches
Machtungleichgewicht zulasten der Genossenschaftsmitglieder, was
daraus zum Ausdruck kommt, dass sie wirtschaftlich weniger stark
gefördert werden als möglich: Insbesondere zeigt sich dies an der
Mietenpolitik vieler Genossenschaften, wenn diese sich mehr am
Mietenspiegel orientiert, statt an den Selbstkosten, zu denen
Wohnungen eigentlich den Mitgliedern überlassen werden könnten wie
dies in der Schweiz noch gang und gäbe ist. Dies wird daran
deutlich, dass der Schweizer Verband der Wohnungsgenossenschaften zum
Prinzip der Kostenmiete noch öffentlich steht
https://www.wbg-schweiz.ch/information/genossenschaftlich_wohnen/was_ist_eine_genossenschaft
Viele große deutsche
Wohnungsgenossenschaften zeigen dagegen mehr oder weniger deutlich,
dass sie sich am Mietenspiegel orientieren und verlangen bei
Neuvermietungen von Wohnungen aus dem Altbestand in der Regel höhere
Nutzungsentgelte. Dies führt nicht nur dazu, dass Nutzungsentgelte höher sind als nötig und Mitgliedern mehr Kaufkraft entzogen wird als nötig, sondern auch dazu , dass die genossenschaftliche Gleichbehandlung zu kurz kommt - gleicher Wohnraum zum gleichen Preis - und dazu, dass es für ältere Menschen unattraktiv wird aus größeren Wohnungen in kleinere Wohnungen umzuziehen und Wohnungen frei zu machen, zum Beispiel für Mitglieder mit Kindern. Auch im Hinblick auf den Klimanotstand und den Bedarf, die Emission von CO2 stark zu reduzieren sollte das Potential, Wohnungen auf freiwilliger Basis besser zu nutzen, unbedingt ausgeschöpft werden. Es ist die mit Abstand ressourcenschonendste Möglichkeit, Wohnraum zu schaffen, noch vor einer ökologischen Gebäudeaufstockung in Holzbauweise, vor einer Grundstücksnachverdichtung im Bestand und erst recht vor neuen Wohnquartieren auf der grünen Wiese. Die Mustersatzung für Genossenschaften, wie sie
vom Verband GDW vorgegeben wird, enthält gar keine Hinweise mehr
auf das Prinzip der Kostenmiete. So entwickeln sich viele
Genossenschaften zu gewinnorientierten Wohnungsunternehmen, die nur
noch eine genossenschaftliche Fassade habe. Das genossenschaftliche
Prinzip der Selbstorganisation spielt oft keine Rolle mehr. Dies
zeigt sich zum Beispiel daran, dass in genossenschaftseigenen
Mitgliederzeitschriften von Mitgliedern keine Leserbriefe oder
Artikel zu finden sind. Die Zeitschriften sind in der Regel ein
normales Instrument der Kundenbindung, der Informationsfluss wird
zentral gesteuert. Marketing ersetzt selbstorganisierte Beteiligung. Ein anderes Beispiel ist, dass die Hürden als Mitgliedervertreter einen Vorschlag auf einer Jahresversammlung in Form eines Quorums so hoch gesetzt sind, dass mir kein Fall bekannt ist, dass es in größeren Wohnungsgenossenschaften überhaupt dazu gekommen ist, dass ein Vertreter oder ein Mitglied einen inhaltlichen Vorschlag zur Geschäftspolitik machen konnte, der von der Vertreterversammlung beraten wurde, zu dem ein Meinungsbild erhoben wurde oder der entschieden wurde.
Dem allen steht das Instrument eines
Mitgliederrates oder einer Mitgliederjury entgegen. Es eröffnet neue Chance der Beteiligung. Die meisten Mitglieder und
Mitgliedervertreter haben wenig Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten,
wichtige unternehmerische Fragen mitzuentscheiden. Es fehlt oft an
Zeit aber auch an Vertrauen. Gerade hier wurde bei dem Bürgerrat von
mehr Demokratie eV deutlich, dass die Teilnehmenden erheblich an
Selbstvertrauen in sich und ihre Partizipanden gewonnen haben. Da es
eine Aufwandsentschädigung für die Teilnehmenden gibt, lohnt es
sich auch für sie ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen. So können
sie gemeinsam zu Ergebnissen kommen, die wirklich fundiert sind,
statt nur die Lösung einer Führungskraft anzuhören und vor die
Entscheidung gestellt zu sein dieser zuzustimmen oder sie abzulehnen
und damit den üblichen Prozess zu stören.
Wie schon auf Seite 5 des
Ergebnispapiers vom Bürgerrat deutlich wird, geht es nicht darum die
Expertise von Experten oder Verbänden per se zu missachten, aber sie
werden nur gehört und nicht exklusiv sondern neben
anderen, dort zum Beispiel der Gesamtverband der deutschen
Versicherungswirtschaft. In Wohnungsgenossenschaften wird bei
Klärung von Fragen oft nur der eigene Verband, der GDW bzw.
seine Unterverbände angefragt. Dies ist nicht zuletzt deshalb
problematisch, da im GDW auch sehr große private gewinnorientierte
Wohnungsunternehmen wie die im Aktienindex DAX
vertretene Vonovia SE Mitglied sind und zudem kirchliche und
kommunale Wohnungsunternehmen. Der Zweck von Genossenschaften, die
Wirtschaft der Mitglieder zu fördern, kann damit schon grundsätzlich
in diesem Verband keine oberste Priorität haben. Dies wird auch
deutlich bei seiner letzten Kampagne im Rahmen des Berliner
Mietendeckels, bei denen Mitglieder über eine Facebook Kampagne
angesprochen werden soll, die ich für manipulativ halte, statt zum
Beispiel ein Panel zu diesem Thema mit Mitgliedern von Berliner
Wohnungsgenossenschaften mit zu organisieren, siehe
https://www.heise.de/tp/features/Immobilienlobby-Mit-Geo-Targeting-gegen-den-Mietendeckel-4557668.html
Zwei Wortmeldungen von Teilnehmern
eines Bürgerpanels in Belgien (XR Leitfaden Seite 25) sind aufschlussreich:
"Wenn wir der Logik von Big
Brother (gemeint ist wohl die Idee alles zentral steuern zu können und
zu sollen) folgen würden, würden wir allmählich die Leute
eliminieren, die uns auf die Nerven gingen. Aber hier tun wir es
nicht. Wir müssen zusammenhalten und zeigen, dass man Dinge
erreichen kann, wenn man zusammenarbeitet." Pierre, Mitglied des
Bürgerpanels Belgien
In meiner Genossenschaft habe ich vor
zweieinhalb Jahren mit anderen eine Basisgruppe Genossenschaftsidee
gegründet, in der wir uns basisdemokratisch, selbstorganisiert und
konstruktiv in die innergenossenchaftlichen Prozesse einschalten und
versuchen mittels Kooperation mit den bestehenden Organen, wie
Vertreterversammlung, Aufsichtsrat und Vorstand die
Unternehmenspolitik stärker am Genossenschaftsgedanken auszurichten.
Auch wir haben immer wieder Situationen, wo es uns schwer fällt
niemand auszugrenzen. Dennoch gelingt uns immer wieder die
Gratwanderung , jedenfalls bisher, dass die Gruppe weder zu einer
verschworenen Gemeinschaft wird, die andere als aussenstehend
betrachtet, noch zu einem losen Haufen, der sich mehr untereinander
streitet als etwas zu bewirken, sondern erfüllen immer wieder den
Anpruch einen Konsens zu erzielen und als Team in der größeren
genossenschaftlichen Gemeinschaft zu wirken.
"Ich war in der nacht im
Parlament, als Abgeordnete aller sechs Parteien sich über
ideologische Differenzen hinweg setzten, um dem Gesetz zuzustimmen.
Es war ein mutiger Schritt, ein Zeichen für andere Politiker*innen- die ihre Wähler*innen eher als Bedohung denn als Resource
betrachten- dass man den Bürger*innen vertrauen sollte, anstatt sie
zu fürchten oder zu manipulieren." David Van Reybrouck,
Mitorganisator des belgischen Bürgerpanels
Auch ich habe wahrgenommen, dass viele
Führungskräfte in Genossenschaften, vom Verband ganz abgesehen,
wenig bis gar kein Vertrauen in die unternehmerischen Fähigkeiten
normaler Mitglieder von Genossenschaften haben. Bei wichtigen unternehmerischen Fragen werden nicht mehrere Optionen jeweils mit für und wieder dargestellt, sondern fertige Lösungen präsentiert. Als ich einmal in der
Fortbildung bei einem Unterverband des GDW-Verbandes den Ausbilder fragte, ob denn aus seiner
Sicht etwas dagegen sprechen würde, wenn ein Vorstand auf einer
Jahresversammlung die erheblichen stillen Reserven, die nicht
bilanziert sind, beziffert, bekam ich zur Antwort,
das könnte Begehrlichkeiten wecken. Wie sollen solche Vertreter unternehmerisch gut entscheiden können, wenn ihnen wichtige Information vorenthalten werden, aus Angst sie könnten falsch entscheiden? Normale Mitglieder, die sich überdurchschnitllich stark in Genossenschaften engagieren,
werden oft als störend empfunden. Mitunter wird beklagt, dass sie nicht mehr Vertrauen in die Leitungskräfte hätten.
Hier zeigt sich ein Wunsch nach Harmonie und Ordnung, der zwar
verständlich ist, aber nach meiner Vermutung in die falsche Richtung
geht. In einer Genossenschaft sollte man zunächst einmal Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit der Mitgliederbasis richten. Traditionelle Wohnungsgenossenschaften entstanden oft zu
Zeiten, als eine autoritäre Führungskultur gang und gäbe war.
Selbst der Vorläufer der SPD, die sich oft und gut um die Demokratie
in der Bundesrepublik verdient gemacht hat und noch am ehesten
versuchte, sich der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 bei
der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz zu widersetzen, wurde
in ihren Anfängen als deutscher Arbeiterverein von dessem
Vorsitzenden geprägt, Ferdinand Lassalle, der einen sehr autöritären
Führungsstill und teilweise eine menschenverachtende Ausdrucksweise
an den Tag legte. Dies wird deutlich an seiner Auseinandersetzung mit
Hermann Schulze-Delitsch, einem der Gründerväter der
Genossenschaftsbewegung in Deutschland, der gegen Lassalle und
Bismarck(!) durchsetzte, dass Genossenschaften ihre
Unternehmenspolitik selbständig gestalten können (Gewerbefreiheit)
siehe
Die SPD beginnt erst seit wenigen
Jahren parteiintern mehr partizipatorische Methoden der
Entscheidungsfindung einzusetzen, im Gegensatz zu den Grünen, die das schon viel länger praktizieren. Da
viele Wohnungsgenossenschaften in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts von und für Menschen mit geringerem Einkommen gegründet wurden, sind viele Mitglieder und Vertreter
SPD-nah und noch einen autoritären Führungstil gewohnt, der die
eigene Rolle darauf beschränkt, zu entscheiden, ob man eine Person x
als Führungsperson für vertrauenswürdig hält oder nicht. Es ist
kein Zufall, dass in der Schweiz Wohnungsgenossenschaften in ihrer
Praxis noch im Durchschnitt deutlich näher an der
Genossenschaftsidee handeln, da zum einen basisdemokratische
Elemente wie Volksentscheide selbstverständlicher Teil der
politischen Kultur sind aber auch liberale Politik, verstanden
als die Idee dass die Leute selbst in der Lage sind sich zu
organisieren und etwas zu bewegen, in der Politik einen größeren
Stellenwert hat als in Deutschland: Die FDP gilt in der Schweiz als
die staatstragende Partei, sie stellte mit Abstand die meisten Bundesräte, also die Mitglieder des oberstes Schweizer Regierungsorgans, eine Art kollegiale Kanzlerschaft:
Auch dass die Schweiz im Namen als
Eidgenossenscahft die Idee der Genossenschaft trägt ist kein Zufall.
Frühe Genossenschaften gab es dort bereits zwischen dem 5. und 7.
Jahrhundert um die Bewirtschaftung von Almen zu ermöglichen http://www.korporation-kerns.ch/de/alpgenossenschaft/geschichteag/
Der Weg muss also dahin gehen,
Vertrauen in die eigenen Kräfte als Unternehmergemeinschaft und
Eigentümergemeinschaft zu entdecken und zu entfalten. Dafür wäre
ein Mitgliederrat eine ideale Möglichkeit, unter Beachtung wichtiger Strukturelemente wie
- einer Zusammensetzung die tatsächlich alle Altersgruppen und Bildungstände der Mitglieder
beinhalten würde und auch
- einer neutralen Moderation und Protokollierung,
- der Anhörung von unterschiedlichen Experten,
- einer Ergebnissoffenheit,
- einem Willen zur Konsensfindung und
- einem verpflichtenden Charakter, dass die Ergebnisse von den Leitungsgremien der jeweiligen Organisation nach bestem Wissen und Gewissen umgesetzt werden.
- einer Aufwandsentschädigung, die auch die Wertschätzung gegenüber der übernommen Aufgabe ausdrückt