Mittwoch, 20. Juli 2022

einige Hinweise der Soziologie der Genossenschaften für die Praxis in großen Genossenschaften

Der Soziologe Prof. Friedrich Fürstenberg hat 1995 die Schrift "Zur Soziologie des Genossenschaftswesens" (Duncker & Humblot, Berlin) vorgelegt, die auch heute noch hilfreiche Aussagen für die Praxis in großen Genossenschaften bereithält. Ergänzt werden die Hinweise um Zitate aus einem weiteren soziologischen Buch "Der Genossenschaftsgedanke F.W. Raiffeisens als Kooperationsmodell in der modernen Industriegesellschaft" von Walter Koch, Creator Verlag, 1991.

Auf Seite 22 schreibt Fürstenberg über die Sozialstruktur in Genossenschaften:"Die Interessen der Beteiligten umschließen in einer Genossenschaft mindestens drei Personenkreise: Die Mitglieder, die Mitarbeiter ohne Führungsverantwortung und die Führungsspitze. Für die Konsensusbildung im Sinne der genossenschaftlichen Zielsetzung sind insbesondere die Einstellungen und Verhaltensweisen der Mitglieder entscheidend. Insoweit kommt dem Ausmaß der Mitgliederintegration eine für die Genossenschaft konstitutive Bedeutung zu."

Hinweis zur Zielsetzung und zur Führungsspitze

In der Praxis von Großgenossenschaften kann es vorkommen, dass die Ziele gar nicht auf die Mitgliederförderung fokussiert sind und /oder dass der Aufsichtsrat sich als Teil der Führungsspitze versteht, der Ansprüche der Mitglieder auf Förderung eher abwehrt als dass er sich erinnert,  dass er die Mitglieder repräsentiert und vertritt und seine Aufgabe darin besteht, die Geschäftsführung danach zu kontrollieren, ob sie bestmöglich die Mitglieder fördert. Im Gegensatz zu anderen Gesellschaftsformen werden in Genossenschaften die Aufsichtsräte nur von den Mitgliedern gewählt und mit Mitgliedern besetzt, nicht mit Mitarbeitern im Rahmen der Mitbestimmungsgesetze. Mir ist ein Fall bekannt, dass einem kritischen Aufsichtsrat von einem Kollegen vorgehalten wurde er würde durch seine Kritik einen Keil zwischen Vorstand und Aufsichtsrat treiben wollen. Für diesen Aufsichtsrat waren beide Gremien bereits zu einer Einheit verschmolzen. Im Gegensatz dazu gibt das Genossenschaftsgesetz in Deutschland vor in §38(1): " Der Aufsichtsrat hat den Vorstand bei dessen Geschäftsführung zu überwachen."

Schon Raiffeisen fiel in den von ihm gegründeten Hilfsvereinen auf, dass die Kontrolle seitens der Aufsichtsräte in der Regel zu gering ausfiel. Er schuf deshalb eine eigenständige Position des "Rechners" der Genossenschaft, der für Bilanzierung und Kontrollrechnungen zuständig war.  So schreibt Koch auf Seite  198: "Da Raiffeisen die Erfahrung gewonnen hatte, daß in vielen Darlehenskassen-Vereinen die Kontrollaufgabe vom Verwaltungsrat [anderer Name für Aufsichtsrat] sehr nachlässig ausgeübt wurde, nahm er in seinen Statuten die Bestimmung auf, in regelmäßigen Zeitabständen Revisionen durchzuführen" und auf Seite 199 zitiert Koch Raiffeisen: "Die Stellung des Rechners ist für das gute Bestehen des Vereins eine sehr wichtige, eigentlich die wichtigste. Wenn der Rechner seinen Verpflichtungen nachkommt, und, wie man zu sagen pflegt, ganz an seinem Platz ist, so bildet er gleichsam die Seele des Vereins." (Friedrich Wilhelm Raiffeisen:"Die Darlehenskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter", 1. Auflage, 1866, Seite 39)

In gewisser Weise ist dies vergleichbar mit dem Institut von Bundes- und Landesrechnungshöfen. Es könnte ein interessanter Ansatz sein in großen Genossenschaften eine professionelle Position unabhängig von Weisungsbefugnissen des Vorstandes zu schaffen, die zu Revision und Rechnungskontrolle direkt an die Generalversammlung berichtet und ein eigenes Budget hat. Gerade im Hinblick auf die Sicherstellung einer bestmöglichen wirtschaftlichen Förderung könnte hier eine unabhängige Berechnung viel zu besserer Transparenz und letztlich zu einer höheren Förderung der Mitglieder beitragen, gerade wenn in der jeweiligen Genossenschaft das genossenschaftliche nur noch eine Art Unternehmensmantel ist. Es gibt zwar auch Pflichtprüfungen durch Wirtschaftsprüfer, diese prüfen jedoch in der Regel nur die Wirtschaftlichkeit der Unternehmensführung und nicht, ob das Förderpotential für die Mitglieder ausgeschöpft wird. Insoweit sind sie gerade nicht "ganz an ihrem Platz".

Zur besonderen Stellung des Bundesrechnunghofes zwischen den Gewalten Exekutive, Legislative und Judikative siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesrechnungshof#Stellung

Hinweis Konsensbildung

Fürstenberg macht deutlich, dass es in Genossenschaft um die Herstellung eines Konsens geht, bei dem alle Mitglieder vom Grundsatz her beteiligt sind. Wikipedia definiert Konsens als die übereinstimmende Meinung von Personen zu einer bestimmten Frage ohne verdeckten oder offenen Widerspruch. Eine gute Genossenschaft zeichnet sich also dadurch aus, dass sie Widerspruch von Mitgliedern aufgreift und bereit ist, eigene Positionen weiterzuentwickeln. Sie orientiert sich dabei an der gemeinsamen Zielsetzung.

Hinweis 1 zur Mitgliederbeteiligung

In Großgenossenschaften ist  die Bereitschaft von Mitglieder sich einzubringen oft nur gering, Schon Raiffeisen stellte 1866 fest, "daß ein großer Theil der Mitglieder sich mit den Vortheilen begnügen, welche ihnen die Vereine in Bezug auf die Darlehn gewähren, daß sie aber an den Versammlungen und überhaupt an den Vereinsangelegenheiten wenig Antheil nehmen" (zitiert von Raiffeisen s.o. Seite 37 bei Koch S. 194). Dies geht einher mit einem Strukturproblem, das Fürstenberg benennt als "die Oligarchisierung der Willensbildung und damit einhergehend der wachsende Einfluß hauptberuflich tätiger Experten." (Seite 24). Hier würden moderne Formen der Beteiligung wie losbasierte repräsentative Mitgliederjurys Abhilfe schaffen. Denn dort kann unter einer neutralen, ergebnisoffenen Moderation bei Zahlung einer Aufwandsentschädigung an die Teilnehmer ein echter Austausch auf Augenhöhe und in ausreichender Zeit stattfinden, bei dem auch unterschiedliche Experten gehört werden.

Hinweis 2 zur Mitgliederbeteiligung

Wenn man Fürstenberg ernst nimmt, sind viele Großgenossenschaften derzeit nur noch der Form nach Genossenschaften. Wie der Ansatz Mitgliederjury zeigt, ist dieser Zustand aber nicht in Stein gemeiselt. Vielmehr ist es so, dass Genossenschaften von ihren Strukturmerkmalen immer offen für die Mitwirkung einzelner Mitglieder sind. So ist  Druck auf eine Reform von innen immer möglich. Koch zitiert passend A. de Meuron von mir frei übersetzt mit " Eine Genossenschaft ist ein Haus aus Glas. Da kann nichts versteckt werden, keine Gewinne, keine Verluste, keine dubiosen Geschäfte und auch nicht die Verfolgung von Partikularinteressen." (Koch Seite 192) (A. de Meuron, "le Role moral de la Cooperation", Bale, 1923, S4 das Zitat im Orginal:"La cooperative est une maison de verre. On n'y peut rien cacher, ni benefices, ni pertes, ni operations douteuses, ni poursuite d'interets particuliers." (ohne Sonderzeichen zitiert)).

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