In der Praxis gibt es in Deutschland zahlreiche Wohnungsgenossenschaften, die in ihrem Namen den Zusatz gemeinnützig tragen. Da Genossenschaften in Deutschland durch das Genossenschaftsgesetz auf den Zweck der Förderung ihrer Mitglieder festgelegt sind, ergibt sich die Frage, ob dies nicht ein Widerspruch ist bzw. wie dieser Widerspruch ggbf. aufgelöst werden kann. Die Frage stellt sich in dem weiteren Kontext, dass es derzeit viel Unzufriedenheit mit unserem Wirtschaftssystem gibt und vielfältig nach Alternativen gesucht wird, sowohl in der Wissenschaft (z.B. Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen) als auch in der Populärkultur (z.B. Gemeinwohlökonomie mit Gemeinwohlbilanzierung oder der Übersichtsartikel im Spiegel vom 30.12.2022 "Hatte Marx doch recht? Warum der Kapitalismus so nicht mehr funktioniert - und wie er sich erneuern lässt").
Deshalb ist zu klären, wo hier Genossenschaften stehen und was das für ihre Möglichkeiten der Unternehmensführung bedeutet. Dies werde ich hier am Beispiel von Wohnungsgenossenschaften tun, die in ihrem Namen das Wort gemeinnützig haben.
Ich schreibe dabei im Rahmen der allgemeinen Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaft, die ich als Teil der Wirtschaftswissenschaften und diese widerrum als Teil der Sozialwissenschaften verstehe. Ich orientiere mich dabei am Leitfaden für gute wissenschaftliche Praxis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Für das Verständis, dass Ausführungen mitunter etwas länger weil genau sein müssen, danke ich den Lesenden.
Was bedeutet Gemeinwirtschaft?
Theo Thiemeyer (1) macht die folgende Unterscheidung: "...verstehen wir unter privatwirtschaftlichen Unternehmen solche, die im Interesse ihrer privaten Träger tätig werden sollen. Gemeinwirtschaftliche Unternehmen sind dagegen solche Unternehmen, die im öffentlichen Interesse oder im Interesse einer übergeordneten Gesamtheit tätig werden." Danach sind Genossenschaften keine gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, da ihr Zweck die Förderung ihrer Mitglieder ist, bei Wohnungsgenossenschaften über die Bereitstellung von Wohnungen zu einem bestimmtem Nutzungsentgelt. Thiemeyer erläutert das weiter, indem er schreibt: "Zu trennen von dem Begriffspaar privatwirtschaftlich - gemeinwirtschaftlich ist das Begriffspaar erwerbswirtschaftlich und bedarfswirtschaftlich. Erwerbswirtschaftlich sind solche Unternehmen, die in verschiedenen Intensitätsgraden Gewinne erzielen sollen. Bedarfswirtschaftlich disponieren solche Unternehmen, die unter bestimmten, in der Regel die Finanzierungskonzeption betreffenden Nebenbedingungen eine optimale Deckung vorhandener Bedarfe anstreben". Ich stimme Thiemeyer hier weitgehend zu und habe diese Unterscheidung ausgebaut in die Unterscheidung von erwerbswirtschaftlicher Gewinnmaximierung und bedarfswirtschaftlicher Nutzenmaximierung, siehe zum Beispiel hier (2). Danach sind Wohnungsgenossenschaften wie auch Konsumgenossenschaften und Energieerzeugergenossenschaften privatwirtschaftliche, bedarfswirtschaftliche Unternehmen.
Einschub - Was bedeutet das für die Unternehmenspolitik?
Die letzte Feststellung ist keine Selbstverständlichkeit. Dass Wohnungsgenossenschaften mitunter unter Druck geraten sowohl von politischer Seite gemeinwirtschaftlich zu agieren als auch - erstaunlicherweise - von Verbandsseite, erwerbswirtschaftlich zu agieren, hatte ich an anderer Stelle aufgezeigt (3), (4). Kritischer und auch pauschaler als ich kommt Christian Picker in Bezug auf Genossenschaften auf den gleichen Punkt. Er schreibt: "Zunehmend ist eine Diskrepanz zwischen genossenschaftlicher Idee und Wirklichkeit, zwischen Rechtstyp und Rechtsform "Genossenschaft" zu beobachten. Dabei drohen Genossenschaften zum einen zu Erwerbswirtschaften zu degenerieren. Hier schwindet der Einfluss der Mitglieder auf die (Förder-)Geschäftspolitik....Zum anderen besteht die Gefahr, dass die Genossenschaften zu gemeinnützigen "Wohltätigkeitsveranstaltungen" verkommen und vom Staat für die Bewältigung gesellschaftspolitischer Anliegen in Anspruch genommen werden." (5). Siehe auch mein früherer Artikel zum dem Thema (6).
Fortsetzung zur Bedeutung von Gemeinwirtschaft
Insoweit unterscheide ich mich von Thiemeyers Aussage nur dahingehend, dass ich den Maximierungscharakter und damit das Kalkülpotential d.h. das Berechnungspotential in der Zielsetzung mehr betone und nicht so sehr relativiere wie er mit seiner Formulierung der "verschiedenen Intensitätsgrade" in Bezug auf erwerbswirtschaftliche Unternehmen. Außerdem sind unter den Nebenbedingungen nach meinem Dafürhalten auch die Grundsätze guter Unternehmensführung und eine nachhaltige Ausrichtung der Unternehmenspolitik wichtig.
Erik Boettcher (7) unterscheidet zwischen Privatwirtschaft, Gemeinwirtschaft und Staatswirtschaft. Unter Privatwirtschaft versteht er alle Unternehmen, die zum Zweck die Förderung der Träger des Unternehmens haben, bei erwerbswirtschaftlichen Unternehmungen über die Gewinnerzielung an Märkten und bei förderungswirtschaflichen Unternehmen (Genossenschaften) über die Förderung ihrer Mitglieder. Gemeinwirtschaftliche Unternehmen sind für ihn solche, die Dritte fördern während zur Staatswirtschaften für ihn öffentliche Unternehmen gehören, die alle Bürger fördern. Ich halte die Unterscheidung Thiemeyers für besser, da sie einfacher ist und zwischen den Kategorien Boettchers Gemeinwirtschaft und Staatswirtschaft ja gar kein Unterscheid besteht in Bezug auf die Adressaten der Förderung. Letzlich kommen ja grundsätzlich alle Mitglieder eines Gemeinwesens als potentiell Förderbare in beiden Fällen in Frage. Zur Frage der Einordnung der Genossenschaften als nicht-gemeinwirtschaftlich sondern als privatwirtschaftlich sind sich Thiemeyer und Boetcher einig.
Was bedeutet gemeinnützig ?
Wenn Genossenschaften nicht gemeinwirtschaftlich sind sondern privatwirtschaftlich, können sie dann gemeinnützig sein? Boettcher bejaht dies und erläutert dies ausführlich. Boettcher schreibt dass "...einer Genossenschaft, der staatlicherseits die Gemeinnützigkeit zuerkannt wurde, im Grunde nur bescheinigt werden kann, daß sie in Verfolgung ihres gesetzlichen Förderungsauftrages (§ 1GenG) für ihre Mitglieder Leistungen erbringt, für die sonst der Staat sorgen müßte und die er daher als dem Gemeinwohl dienend als förderungswürdig ansieht. Während also Genossenschaft und Gemeinwirtschaft nach der jeweils zu fördernden Gruppe zu unterscheiden sind, kommt es, wie noch deutlicher zu zeigen sein wird, bei der Gemeinnützigkeit allein darauf an, ob die Eigen- oder Fremdförderung den Staat in seinen Pflichtaufgaben entlastet oder ergänzt - Pflichtaufgaben, zu denen auch die Unterstützung besonders förderungswürdiger Personengruppen gehören kann". (Boettcher, Seite 98)
Was bedeutet das für die Unternehmenspolitik von gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaften heute?
Wohnungsgenossenschaften mussten bestimmte Auflagen erfüllen, um nach dem Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz von Gewinnsteuern befreit zu sein. Einige namen deshalb den Begriff gemeinnützig in ihre Firma, den Handelsnamen der Genossenschaften, auf. Als das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz Ende 1989 aufgehoben wurde und eine Steuerbefreiung für alle Vermietungsgenossenschaften weiter möglich war, bestand keine Notwendigkeit einen vertrauten Namen zu ändern. Folgt man Boettcher, hat der Begriff gemeinnützig keinen Einfluss auf die Unternehmenspolitik von Genossenschaften dahingehend, dass er ihren Förderungscharakter und ihre Förderungsverpflichtung gegenüber den Mitgliedern abgeschwächt hätte sondern nur Bestätigungscharakter. Deshalb kann auch eine freiwillige Fortführung dieses Namensteiles nicht dazu führen, dass diese Förderungsausrichtung auf die Mitglieder abgeschwächt oder gemeinwirtschaflich uminterpretiert wird. Damit können sich Genossenschaften gut gegenüber möglichen Vereinnamungs- bzw. Instrumentalisierungsversuchen von wohnungspolitischen Interessensgruppen wehren. Boettcher schreibt: "Sehen wir die Gemeinnützigkeit in dem obigen Sinne, so kann ihre Zuerkennung nicht bedeuten, daß der Staat durch sie unternehmenspolitische Ziele zu verändern trachtet oder in sie einzugreifen versucht. Genossenschaften und Gemeinwirtschaften bleiben also - auch solche, die aus Sicht des Staates als gemeinnützig gelten - das, was sie auch vorher schon waren, das heißt, ihren ursprünglichen Zielen verpflichtet. Sie werden durch die Zuerkennung der Gemeinnützigkeit nicht verändert, sondern nur bestätigt." (Boettcher, S.108)
Das bedeutet auch Wohnungsgenossenschaften, die gemeinnützig in ihren Namen tragen, können sich im Rahmen verantwortlicher Unternehmensführung auf die wirtschaftliche Förderung ihrer Mitglieder konzentrieren. Das bedeutet auch, dass sie gemeinwohlfördernde Aktivitäten, die über den Mitgliederkreis hinausgehen und damit Stiftungscharakter haben, nur in einem Umfang betreiben können, der die wesentlichen Eckparameter ihres Hauptgeschäftes nicht in größerem Umfang beeinträchtigt. Sie können solche Aktivitäten nur betreiben unter Zustimmung und über Beschlüsse der Mitgliederversammlung (Generalversammlung bzw. Vertreterversammlung). Sollte die Mehrheit der Mitglieder einer Genossenschaft solche Aktivitäten wollen, ist nach meiner Erfahrung die Gründung einer Stiftung sinnvoll. Dann können die Mitglieder über die Höhe der Finanzierung der Stiftung im Vorwege festlegen, wie viele finanzielle Mittel, die sie ja erwirtschaften, in diesen Teil fließen sollen und die Projektausführenden müssen nicht immer alle Detailprojekte den Mitgliedern zur Abstimmung vorlegen.
(1) Thiemeyer, Theo "Wirtschaftslehre öffentlicher Betriebe", Hamburg, 1975, Seite 30 (Anmerkung Thiemeyer bezieht sich mit dem obigen Zitat auf Gerhard Weisser. Da er aber keine Quelle angibt, konnte ich diese hier nicht zitieren.)
(2) Giebel, Frank, "Vorschlag zur Systematisierung des Untersuchungsgegenstandes der allgemeinen Betriebswirtschaftslehre (ABWL)", Blog: liberal und kooperativ, Oktober 2022
(3) Giebel Frank, "Ein wichtigter Meilenstein für deutsche Wohnungsgenossenschaften auf dem Weg zur vollen Potentialentfaltung der Genossenschaftsidee", Blog: liberal und kooperativ, August 2020
(4) Giebel, Frank "Gewinnorientierung als Zeitgeistsaspekt in der Fachliteratur zur Wohnungswirtschaft", Blog: liberal und kooperativ, Mai 2022
(5) Picker, Christian, "Genossenschaftsidee und Governance", München, 2019. Seite 162
(6) Giebel, Frank, "weitere Fachaussagen zur Abgrenzung von Wohnungsgenossenschaften zu am Gemeinwesen orientierten Unternehmen und von Erwerbsunternehmen", Blog: liberal und kooperativ, Oktober 2022
(7) Boettcher, Erik, "Die Genossenschaft im Verhältnis zu erwerbswirtschaftlichen und gemeinwirtschaftlichen Unternehmen sowie zur Gemeinnützigkeit", "Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen, 1984, Heft 2, Seite 91-110