Vor einigen Monaten hatte ich einen
Vortrag des Theologen und Philosophen Jürgen Manemann über den
Klimanotstand gehört. https://www.youtube.com/watch?v=jf0Ikh_3jxU&t=882s
Mich frappierte darin eine Zitat von
Roger Willemsen. "Aus all den Fakten ist keine Praxis
entsprungen, die auf der Höhe der drohenden Zukunft wäre"
(11:28). Auch wenn ich selbst am Thema Klimaanotstand sehr interessiert
bin, wurde mir klar, dass diese Aussage sich weitgehend auch auf
traditionelle Wohnungsgenossenschaften in Deutschland übertragen
lässt: aus all ihren Handlungen, ihren Traditionen und ihrem
Selbstverständnis ist in der Regel keine Praxis entsprungen, die auf
der Höhe dessen ist, was Genossenschaften sein können, was ihrem
Potential entspricht. Auch die von Manemann zitierte Einsicht von
Hegel passt hier: Bekanntes ist darum, weil es bekannt ist, noch
lange nicht erkannt." (10:47). Jürgen Manemann formuliert das
so: Das, was das bekannteste ist, ist vielfach das, was wir überhaupt
nicht erkannt haben: Mitglieder und Funktionsträger in
Genossenschaften sind häufig gängige Geschäftspolitiken und Sichtweisen so sehr gewohnt, dass sie gar
nicht mehr auf die Idee kommen, dass Genossenschaften mehr sein
können, als sie es seit Jahren erfahren, dass sie in ihrem konkreten
Fall noch gar nicht richtig gebohren sind bzw. noch nicht erwacht
oder erwachsen geworden sind.
Was müsste erfüllt sein, um diese
höhere Qualität der Genossenschaftsidee zu verwirklichen? Auch
dafür liefert der Vortrag von Jürgen Manemann gute Hinweise: Den
ersten Punkt, den er macht, ist die Wahrheit zu sagen (ab min 9). Dabei
stellt er fest, dass dies zunächst heißt Fakten zu nennen und auf
Fakten basierende Informationen zu verbreiten. Im
genossenschaftlichen Kontext könnte dies heißen, dass gängige
Unternehmenspraktiken untersucht werden, inwieweit sie
genossenschaftlichen Prinzipien oder in der Satzung festgelegten
Regeln widersprechen und Korrekturen einzufordern bzw selbst
Vorschläge zu machen, wie die Praxis besser am Genossenschaftsgedanken
ausgerichtet werden kann. Manemann geht allerdings weiter. Er stellt
fest, dass für eine gute Praxis Verstand und Herz angeprochen werden
müssen: "Die Wahrheit sagen muss also mehr beinhalten als
Fakten aufzulisten. Die Wahrheit sagen muß heißen sie so zu sagen,
daß wir von der Wahrheit berührt werden, daß uns diese Wahrheit
angeht, und zwar in unserem Innersten. Nur dann kann diese Wahrheit
Leben, unser Leben verändern. Nur dann stellt diese Wahrheit einen
Anspruch an mich. Ein dieser Wahrheit entsprechendes Leben führen
heißt wahrhaftig zu leben, Wahrhaftigkeit heißt die Wahrheit tun.
Wahrheit sagen muss eine Praxis nach sich ziehen." Weiter weist
Manemann auf Michel Foucault hin, dass Wahrheit sagen immer mit
Selbstverwandlung zu tun haben muss und dem zahlreiche
Widerstände und Ablehnung entgegenstehen können. Er geht weiter auf
die griechische Herkunft des Wortes Wahrheit, aletheia, ein, das
wörtlich Unverborgenheit bedeutet. Nach dem Philosophen Vilém Flusser ginge es darum die "Wattedecke
der Gewohnheiten wegzuziehen", "die die Wahrheit verbirgt", "die alle Ecken abrundet und alle Störgeräusche dämpft". Deshalb ist es wichtig
innerhalb von Genossenschaften auf Augenhöhe miteinander zu
kommuzieren und alle Informationen transparent zu machen, d.h.
gleichbereichtigt zu teilen aber auch, sich hin zu einer Praxis zu
entwickeln, Emotionen miteinander zu teilen. Wissen sollte nie als Herrschaftswissen eingesetzt werden, sondern innerhalb von Genossenschaften so breit wie möglich geteilt werden. Hauptamtlich tätige Vorstände haben immer auch einen Bildungsauftrag gegenüber den Mitgliedern. Unternehmerische Entscheidungen auf Mitgliederversammlungen sollten im Kontext möglicher Alternativen vorgestellt und damit die Rolle der Mitglieder als Mitunternehmer achten. Und vor allem, die Mitglieder sollten diese Rolle, die sie innehaben, selbst achten. Wie §1 des Genossenschaftsgesetzes formuliert, geht es in Gnossenschaften darum, die Wirtschaft der Mitglieder mittels eines gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebs zu fördern. Das heißt, auch wenn eine Geschäftsführung die operative Verantwortung hat und die Geschäfte ausführt, sind alle als Mitunternehmer beteiligt und sollten die grundlegenden Aspekte der Unternehmensstrategie mit vollziehen und im Zusammenspiel mit dem Aufsichsrat mit gestalten. Dabei dürfen und sollten alle Beteiligte auch ihre Emotionen benennen. Destruktiv werden Ängste
und Sorgen dann, wenn sie nicht ausgeprochen werden, sondern
hinter rationalen Argumenten verborgen werden. Hier haben wohl die meisten traditionellen Wohnungsgenossenschaften noch Entwicklungspotential, nicht anders als die meisten Unternehmen anderer Rechtsformen. Weitere Entwicklungspotentiale für Unternehmen in der Entwicklungslinie - streng hierachisch geführt - über rational geführt - ökologisch ausgerichtet - hin zu wertebasiert und und kollegial geführt - zeigte 2014 Frederic Laloux auf in seinem Buch "Reinventing Organizations." Das Gute an der Praxis ist,
dass sie Fehler der Vergangenheit verzeiht, da in jedem Augenblick die
Praxis durch adäquates Handeln verbessert werden kann. Jederzeit
ist ein Neustart möglich und jeder, der damit anfängt, egal in
welcher Position er ist, verändert damit bereits die Gesamtsituation
in einem Unternehmen.
Auf Augenhöhe kommunizieren heißt in diesem Zusammenhang auch anzuerkennen, dass wir alle als Menschen auf dem Weg sind, uns in einer Entwicklung befinden, egal welche Rolle wir in einer Genossenschaft ausfüllen. Dies erlaubt echte Veränderung, weil Fehler nicht als Bedrohung erlebt werden, sondern als Chance, aus Fehlern zu lernen und Dinge beim nächsten mal besser zu machen und uns gemeinsam als Unternehmen weiterzuentwicklen, innerhalb einer Gesellschaft, die sich ja ebenfalls dringend weiter entwickeln muss, um Herausforderungen wie den drohenden Klimakollaps zu bewältigen. Insofern sind Genossenschaften auch immer Lernräume für einen guten Umgang miteinander und für Mitbestimmung und Demokratie, die in die ganze Gesellschaft ausstrahlen können.
Der zweite Punkt, den Mannemann macht, ist, dass er sagt, dass sich die Praxis nur ändern wird, wenn wir sensibel für diese tiefergehenden Zusammenhänge sind. In der genossenschaftlichen Praxis bedeutet dies, dass allein dadurch, dass einige Menschen beginnen, über diese Dinge zu reden, zu schreiben und sich zu vernetzen, sich etwas verändert, sowohl in einzelnen Genossenschaften als auch gesamtgesellschaftlich. Zeugnisse von Menschen und Gruppen, die in diesem Sinne nach meiner Wahrnehmung aktiv sind gibt es einige, siehe als Beispiel:
der Blog von Wirkraft https://mmw-wirkraft.blogspot.com/search/label/Erfolg%20mit%20Genossenschaften
anders wohnen in Genossenschaften https://anderswohneningenossenschaften.de/
Genossenschaft-von-unten-Berlin http://www.genossenschaft-von-unten.eu/
Genossenschaft-von utnen Hamburg https://genossenschaft-von-unten-hamburg.de/
Genonachrichten https://www.genonachrichten.de/
eine Initiative von Mitgliedern der Altoba zu datensammelnden Rauchwarnmeldern https://annaelbe.net/rauchmelder/argumente_argumente.php
Ein Beispiel für Wohnungsgenossenschaften, die hier schon sehr gut unterwegs sind:
Selbstbau eG Berlin link Leitbild und aus der Schweiz die Gesowo aus Winterthur siehe link Leitbild