Freitag, 7. August 2020

Was Genossenschaften von der Schweizer Demokratie lernen können

Wenn Sie diesen Text gelesen haben, werden Sie Wege verstehen und anwenden können, um mit auftretenden Impulsen für Kursänderungen konstruktiv umzugehen und Spaltungen innerhalb von Genossenschaften zu vermeiden. Dies ist interessant für Mitglieder von Genossenschaften, Vereinen oder anderen Organisationen, egal ob sie ohne weitere Funktion sind oder Mitgliedervertreter, Aufsichtsrat oder Vorstand sind.

Große Genossenschaften mit hunderten oder sogar tausenden von Mitgliedern neigen wie alle Organisationen dazu, über die Jahre oder Jahrzehnte informelle Strukturen herauszubilden. Dabei können die Grundlagen der gewählten Unternehmenspolitik für die handelnden Akteure so selbstverständlich geworden sein, dass es ihnen schwer fällt diese geradeheraus und konkret zu benennen. Kommen dann Impulse für Veränderungen von Mitgliedern, fällt es Organisationen oft schwer, diese zu integrieren. In den Wirtschaftswissenschaften befasst sich die neue Institutionenökonomik mit derartigen Phänomenen. Prinzipiell ist es in Genossenschaften als demokratischen Organisationen vorgesehen, dass Mitglieder mitgestalten und Impulse einbringen. Sie können sich anbieten, Verantwortung zu übernehmen und zum Beispiel als Aufsichtsrat kandidieren. Bei einem begründeten Impuls und fehlender Integrationskraft der Organisation wird dieser Impuls in der Organisation wachsen und es können sich zwei Fraktionen bilden. Dann besteht die Herausforderung darin, diese konstruktiv zusammenzuführen. Der ideale Weg hierfür ist eine kooperative Unternehmenskultur, die sich an den gemeinsamen Zielen ausrichtet. In der Praxis heist das, dass zum Beispiel im Aufsichtsrat man sich nicht darauf ausruht, dass eine Mehrheit eine Minderheit regelmässig überstimmt, sondern dass man nach dem Konsentverfahren die Lösungen weiterverfolgt, die tatsächlich das Potential haben, das Unternehmen als Ganzes voranzubringen, unabhängig davon wer sie einbringt. Informationen zu dem extrem konstruktiven Konsentverfahren als Entscheidungsfindungswerkzeug in Gruppen verlinke ich am Ende des Textes. 

Selbst wenn es keine so weitgehende kooperative Führungs- und Entscheidungspraxis gibt, zeigt das Schweizer Demokratiemodell Wege auf, wie mehrere Meinungen mittelfristig zusammengeführt und Spaltungen vermieden werden können:

Im Falle der Schweiz und großer Genossenschaften soll hier eine Analogie gewählt werden, um zwei Punkte klar zu machen, ohne dass diese Analogie überinterpretiert werden soll:

Die Aussagen sollen am Beispiel eine großen Wohnungsgenossenschaft gemacht werden mit mehreren tausend Mitgliedern, die deshalb über eine jährliche Vertreterversammlung verfügt. Das heist, statt einer jährlichen Generalversammlung aller Mitglieder werden für eine Wahlperiode Vertreter gewählt, die die Interessen der Mitglieder vertreten und den Aufsichtsrat wählen. Dieser widerum bestimmt den Vorstand. Es wird hier keine bestimmte Genossenschaft beschrieben, sondern es fließen Kenntnisse aus der Praxis von vielen großen deutschen Wohnungsgenossenschaften ein. Dies heißt nicht, daß alle großen Wohnungsgenossenschaften so handeln wie hier dargestellt.

In demokratischen Staaten hat sich die Gewaltenteilung zwischen Exekutive (Regierung), Legislative (Parlament) und Judikative (Gerichte) als Erfolgsrezept erwiesen. Bei großen demokratisch aufgebauten Organisationen wie Genossenschaften kann man die Geschäftsführung bzw den Vorstand mit der Regierung vergleichen und den Aufsichtsrat und die Vertreterversammlung mit zwei aufeinander aufbauenden Kammern der Gesetzgebung. Der Aufsichtsrat berät und beschließt über die Grundlinien der Unternehmenspolitik. Die Vertreterversammlung beschließt über die Satzung, quasi  das Grundgesetz einer Genossenschaft,  über Satzungsänderungen und spricht über die Entlastung Vorstand und Aufsichtsrat als Leitungsgremien das Vertrauen aus oder verweigert dieses.

Als konkretes Beispiel aus der Praxis würden bei einer Wohnungsgenossenschaft der Aufsichtsrat über Durchführungsrichtlinien beschließen zum Beispiel zur Festsetzung der Nutzungsentgelte (Mieten) oder zur Neubautätigkeit.

Wie bei Staaten gibt es es auch in Genossenschaften Personengruppen, die unterschiedliche Auffassungen haben, welche Politik, sprich welche Art, die Geschäfte zu führen, die beste ist. In unserem Fall stehen zum Beispiel zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Entweder maximiert die Wohnungsgenossenschaft den wirtschaftlichen Nutzen für ihre Mitglieder und setzt die Nutzungsentgelte so niedrig wie möglich und so hoch wie nötig fest und richtet bei Neubauten konsequent die Menge, die Preise und die Wohnlagen nach der Nachfrage ihrer eigenen Mitglieder aus oder sie versteht sich als gemeinwohlorientiert in dem Sinne, dass sie für die Bevölkerung in einer Region insgesamt baut und dafür höhere Nutzungsentgelte nimmt, um mehr Gewinne machen zu können, mehr Rücklagen aufbauen zu können und so schneller und stärker wachsen zu können. In der Analogie gibt es dafür beispielhaft zwei "Parteien", eine sozialdemokratische und eine sozialliberale. Die sozialdemokratische Gruppe traut den Genossenschaftsmitgliedern nicht allzu viel unternehmerisches Mitdenken zu und will sie gut versorgen und möglichst umfangreich den Wohnungsbau in der Region mitgestalten. Die sozialliberale Fraktion traut den Mitgliedern zu unternehmerisch mitzudenken und mit zu entscheiden und ihre Rolle als Miteigentümer ernst zu nehmen und aus der gewonnenen Kaufkraft durch die deutlich niedrigeren Nutzungsgelte Vermögen aufzubauen und insoweit gesellschaftlich positiv zu wirken und die Schere zwischen arm und reich zu vermindern.

Was kann hier nun von der Schweiz gelernt werden?

Die Schweiz ist im Gegensatz zu Deutschland eine Konkordanzdemokratie https://de.wikipedia.org/wiki/Konkordanzdemokratie und keine Konkurrenzdemokratie https://de.wikipedia.org/wiki/Konkurrenzdemokratie . Es gibt zwar in beiden Systemen Parteien, aber in einer Konkordanzdemokratie werden an der Regierung alle wichtigen Strömungen beteiligt.  Dies führt dazu, dass alle Beteiligten grundsätzlich versuchen, miteinander auszukommen  und es gewohnt sind alles wichtige miteinander ausführlich zu bereden. Ich erinnere mich gut wie überrascht ich war, als ich auf der Schweizer Föderalismuskonferenz in Montreux 2017 eine Podiumsdiskussion erlebte, bei der die Vorsitzende der sozialdemokratischen Jugendorganisation bei allem Reformeifer das Wirtschaftssystem der Schweiz grundsätzlich akzeptierte und der Arbeitgeberpräsident gleichzeitig zum Thema Mindestlohn zwar betriebswirtschaftliche Aspekte anprach, aber zugleich deutlich machte, dass er mit Mindestlöhnen leben könne, weil es den Arbeitern und Angestellten dadurch besser ginge und davon auch die Unternehmen profitieren würden. Im Parlament einer Konkordanzdemokratie geht es also nicht darum, die Vertreter anderer Parteien abzuwerten, sondern das Gemeinsame in den Blick zu nehmen und zu versuchen bei der Lösungsfindung alle Interessen zu hören und miteinzubringen.

Übernehmen Genossenschaften diesen Denkrahmen, hilft ihnen das mit unterschiedlichen Meinungen wertschätzend umzugehen und offen zu kommunizieren und sich an den gemeinsamen Zielen auszurichten.

Existiert im konkreten Fall eine deutliche Mehrheit und eine deutliche Minderheit wird dann die Mehrheit bereit und in der Lage sein, ihre Ziele klar zu benennen und ihre Hauptüberlegungen transparent zu machen. Und sie wird ein Interesse daran entwickeln zu schauen, was sie von neuen Impulsen für die gemeinsame Sache aufgreifen und nutzen kann. Besteht im Beispielfall eine sozialdemokratische Mehrheit gegenüber über einer sozialliberalen Minderheit würde die Mehrheit vermutlich besser benennen können,  dass vom alleinigen Zweck einer Genossenschaft wie es das Genossenschaftsgesetz benennt, die Mitglieder zu fördern, abgewichen wird und in der Praxis eine breitere Förderung stattfindet. Vielleicht wäre sie auch bereit, die eigene Position zu erweitern oder ein Referendum quasi einen "Volksentscheid" bei den Mitgliedern der Genossenschaft einzuholen. Es ist vermutlich kein Zufall, dass in der Schweiz als Konkordanzdemokatie Volksentscheide eine große Rolle spielen, da Mehrparteienregierungen in ihrer Lösungsfindung ja weniger ideologisch festgelegt sind und es deshalb Sinn macht bei zentralen, langfristigen Festlegungen beim Souverän, dem Staatsvolk nachzufragen, ob es einverstanden ist.
 
Exisitieren im konkreten Fall zwei ungefähr gleich große Strömungen, wäre der Weg vorgezeichent auch im Vorstand beide Strömungen zu berücksichtigen. Die Schweiz zeigt, dass dies in der Praxis ohne Blessuren funktioniert. In der Schweiz nennt sich diese Mehrparteienregierung Bundesrat und ist kollegial ausgerichtet https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesrat_(Schweiz). Statt eines Bundeskanzlers gibt es sieben Bundesräte, die kollegial regieren. Grundsätzlich passt dieses Prinzip ideal zu Genossenschaften, da auch diese auf Kooperation ausgelegt sind. Ein anderes Wort für Genossenschaft ist Kooperative. https://de.wikipedia.org/wiki/Genossenschaft
 
Links zum Konsent-Verfahren:
 
 
Hintergrund:
 
Die deutschen Wohnungsgenossenschaften waren über Jahrzehnte durch das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz 1930-1990 geprägt, das zum einen genossenschaftliche Prinzipen übernahm wie die Kalkulation der Leistungen auf Basis der Selbstkosten, aber auch genossenschaftliche Rechte beschnitt, wie zum Beispiel, dass bei einer eventuellen Auflösung der Genossenschaft das Vermögen nicht an die Mitglieder verteilt werden durfte, sondern an eine gemeinnützige Stiftung übertragen werden musste. Statt der Förderung der Wirtschaft der Mitglieder als Zweck von wirtschaftlich ausgerichten Genossenschaften wie es Wohnungsgenossenschaften sind und  wie es in § 1 des Genossenschaftsgesetzes festgelegt wurde, wurde in diesem Gesetz festgeschrieben, dass die "deutsche Familie" gefördert werden sollte. Damit wurde bis 1990 nicht nur eine gesellschaftspolitisch fragwürdige Bevorzugung von Familien gegenüber anderen Formen des Zusammenlebens durch ein Gesetz verstärkt - noch dazu mit einem sehr bedenklichen Ausschluss von Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit -, sondern es wurde der Genossenschaftsgedanke in seinem Kern ignoriert, da nicht mehr die Mitglieder gefördert werden sollten, sondern pauschal eine  bestimmte gesellschaftliche Gruppe. Dass sich das Gesetz mit diesen Formulierung bis 1990 halten konnte, zeigt wie wenig politisches Gewicht und wie wenig durchsetzungsstarke Fürsprecher der Genossenschaftsgedanke in Deutschland in dieser Zeit im Bereich Wohnen hatte bzw. wie sehr sein Potential unterschätzt wurde, gesellschaftlich positiv zu wirken wenn er sich ganz entfalten könnte. Historisch war wahrscheinlich Herman Schulze-Delitisch der überzeugteste und wirkmächtigste Fürsprecher der Genossenschaftsidee in Deutschland , da er die Gewerbefreiheit für Genossenschaften ohne staatliches Reinreden in die Geschäftsführung durchsetzen konnte gegen den Widerstand des damaligen Vorsitzenden des deutschen Arbeitervereins, Ferdinand Lasalle (der Vorläuferorganisation der SPD). Insoweit hat der Auffassungsunterschied zwischen eher autoritär geprägter Sozialdemokratie und  sozialem Liberalismus eine große historische Tiefe, siehe https://www.pt-magazin.de/de/wirtschaft/unternehmen/genossen-gegen-genossen_6cp.html. Damit kommen deutsche Wohnunsgenossenschaften aus einem deutlich anderen historisch-gesellschaftlich-kulturellen Umfeld als Schweizer Wohnungsgenossenschaften. Auffällig ist auch, dass in der Schweiz die liberale Partei über Jahrzehnte die stärkste Partei war, in Deutschland dagegen liberale Aspekte in der Politik zwar immer auch eine Rolle spielten, entweder in der FDP oder bei Politikern wie Willy Brandt in der SPD ("Im Zweifel für die Freiheit" https://www.amazon.de/Zweifel-f%C3%BCr-Freiheit-sozialdemokratischen-Willy-Brand-Dokumente/dp/380120426X ) oder als ein Aspekt unter vielen in der CDU aber insgesamt nicht das politische Gewicht hatten wie in der Schweiz.


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